Stilles Echo
über einen anderen Menschen, den Wunsch, einem anderen Schmerz zuzufügen und ihn zu demütigen.« Sie hielt inne. Sylvestra sah sie voll Erstaunen an, als hätte sie etwas Neues und beinahe Unvorstellbares gesagt.
»Haben Sie niemals den Wunsch gehabt zu strafen, nicht um der Gerechtigkeit willen, sondern einfach aus Zorn?« fragte Hester sie.
»Ich… ich denke schon«, sagte Sylvestra langsam. »Aber das ist kaum… ja, Sie haben wohl recht.« Sylvestra sah Hester an.
»Wollen Sie behaupten, es sei dasselbe, nur in einer schauderhaft gesteigerten Form?«
»Ich weiß es nicht. Ich versuche lediglich, es mir vorzustellen.«
»Aber warum sollte Rhys solche Frauen hassen? Er kennt sie ja nicht einmal!«
»Vielleicht spielt es keine Rolle, wer es ist. Jeder würde genügen, je schwächer, je verletzlicher, um so besser.«
»Hören Sie auf!« Sylvestra schauderte. »Es tut mir leid. Es ist nicht Ihre Schuld. Ich habe Sie gefragt, und jetzt will ich die Antwort nicht mehr hören. Der arme Leighton. Er muß schon seit einer Ewigkeit geargwöhnt haben, daß etwas Schreckliches im Gange war, und schließlich ist er der Sache nachgegangen. Als er an jenem Abend folgte und feststellte…« Sie konnte ihren Satz nicht beenden. Die beiden Frauen standen in dem stillen, würdevollen Raum, zwei Frauen, die dieselbe furchtbare Szene in der dunklen Gasse vor sich sahen, Vater und Sohn, Auge in Auge und mit einem Grauen konfrontiert, das sie auf ewig voneinander trennen mußte. Und dann hatte der Sohn zugeschlagen, vielleicht aus Zorn oder Schuldgefühlen heraus, vielleicht aus Angst, daß das Gesetz seiner habhaft werden könne. Möglich, daß er geglaubt hatte, den Konsequenzen seines Tuns entrinnen zu können, wenn er zuschlug. Und sie hatten miteinander gerungen, mit Fäusten und mit Füßen, bis Leighton tot und Rhys so schwer verletzt war, daß er das Bewußtsein verlor und in seinem eigenen Blut dort auf den Steinen liegenblieb.
Und nun erschien seine eigene Tat ihm so schrecklich, daß er sie sich nicht einmal selbst eingestehen konnte. Es war eine andere Person gewesen, ein anderer Rhys, zu dem er sich nicht bekannte.
»Wir müssen einen Anwalt für ihn suchen«, sagte Hester laut.
»Er braucht eine Verteidigung, wenn er vor Gericht gestellt wird. Gibt es jemanden, den Sie bevorzugen würden?«
»Einen Anwalt?« Sylvestra blinzelte. »Werden sie ihn wirklich verurteilen? Er ist krank! Er muß wahnsinnig sein, sehen Sie das denn nicht? Corriden wird es den Leuten sagen.«
»Er ist nicht zu wahnsinnig, um vor Gericht gestellt zu werden«, sagte Hester mit absoluter Gewißheit. »Ob Wahnsinn die beste Verteidigung sein wird oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Aber Sie müssen einen Anwalt suchen. Haben Sie jemanden?«
Es schien Sylvestra schwerzufallen, sich zu konzentrieren. Ihr Blick war trüb und irrte immer wieder ziellos durch den Raum.
»Ein Anwalt? Mr. Caulfield hat sich stets um unsere Angelegenheiten gekümmert. Natürlich habe ich selbst nie mit ihm gesprochen. Geschäftliche Dinge hat immer Leighton erledigt.«
»Ist er Notar?« fragte Hester, die sich der Antwort beinahe gewiß war. »Für diese Sache brauchen Sie einen Strafverteidiger, jemanden, der Rhys vor Gericht vertreten wird. Er muß über Mr. Caulfield mit der Sache betraut werden, aber wenn Sie keine Vorlieben haben, ich bin mit Sir Oliver Rathbone bekannt. Er ist der beste Strafverteidiger, den wir haben.«
»Ich denke, Sie haben recht…« Sylvestra war sich nicht sicher. Hester konnte nicht sagen, ob es der Schock über die Wendung der Ereignisse war oder ob sie nicht wußte, ob sie einen unbekannten Anwalt engagieren sollte, wenn sie fürchtete, ihr Sohn sei schuldig. Vielleicht war die Entscheidung einfach zu groß für sie, als daß sie sie allein hätte treffen können. Sie war nicht an Entscheidungen gewöhnt. In der Vergangenheit hatte sich um solche Dinge stets ihr Mann gekümmert. Er hätte die notwendigen Informationen zusammengetragen, das entscheidende Wort gesprochen. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal von ihr erwartet, daß sie überhaupt ihre Meinung äußerte.
»Ich werde Mr. Oliver sprechen und ihn bitten, Sie aufzusuchen.« Sie formulierte ihre Worte nicht als Frage, sondern als Feststellung, damit Sylvestra nicht einfach ablehnen konnte. Hester lächelte ermutigend. »Wäre es vernünftig, wenn ich die Sache gleich als erstes heute morgen erledige?«
Sylvestra holte tief Atem, konnte sich jedoch immer noch
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