Stilles Echo
dastehen wie einer jener Menschen, die im nachhinein kluge Reden führen, und Sylvestra hätte ein solches Verhalten als Verrat empfunden. Und einige der Geschworenen vielleicht ebenfalls.
»Dr. Wade?« fragte er noch einmal.
Wade hob den Kopf und sah ihn entschlossen an.
»Ich war mir einer gewissen Spannung zwischen den beiden bewußt«, antwortete er, und seine Stimme klang nun kräftiger und voller Bedauern. »Ich hielt es für den normalen Groll eines Sohnes, dem die natürliche Autorität seines Vaters nicht behagt.« Er biß sich auf die Unterlippe und holte tief Atem. »Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, daß es so enden würde. Ich mache mir große Vorwürfe deswegen. Ich hätte tiefer sehen müssen. Während meines Dienstes in der Marine habe ich weitreichende Erfahrungen mit Männern aller Altersstufen und unter extremem Druck gemacht.« Der Hauch eines Lächelns glitt über seine Züge und war sogleich wieder verschwunden.
»Bei Menschen, die einem näherstehen und für die man eine gewisse Zuneigung empfindet, widerstrebt es einem wohl, solche Dinge zu erkennen.«
Es war eine kluge Antwort, ehrlich und doch ohne sich festzulegen. Sie hatte ihm den Respekt der Geschworenen eingetragen. Rathbone konnte es in den Mienen der Männer lesen. Er wäre besser beraten gewesen, diese Frage nicht zu stellen, aber jetzt war es zu spät.
»Sie haben es nicht vorhergesehen?« wiederholte er.
»Nein«, sagte Wade leise und mit zu Boden gerichtetem Blick. »Ich habe nichts dergleichen geahnt, Gott möge mir vergeben.«
Rathbone zögerte, drauf und dran, den Arzt zu fragen, ob er Rhys für geistesgestört halte, entschied sich dann aber dagegen. Keine Antwort, ganz gleich, wie sie ausfiel, konnte seiner Sache in solchem Maße helfen, daß sie das Risiko lohnte.
»Ich danke Ihnen, Dr. Wade. Das ist alles.«
Goode hatte bereits auf die große Gewalttätigkeit des Kampfes und die Tatsache hingewiesen, daß kein Grund für die Vermutung vorlag, eine dritte oder vierte Person könne dabei gewesen sein. Er rief die Dienstboten aus dem Hause Duff in den Zeugenstand – was diesen zutiefst widerstrebte – und ließ sie über den Streit am Abend vor Leighton Duffs Tod berichten. Die Diener waren es auch, die er nach der genauen Zeit befragte, zu der die beiden Männer das Haus verlassen hatten. Auf diese Weise ersparte er Sylvestra zumindest den Kummer, selbst aussagen zu müssen.
Während der ganzen Verhandlung saß Rhys von Kissen gestützt auf der Anklagebank. Seine Haut war aschfahl, und seine Augen wirkten riesig in seinem ausgezehrten Gesicht. Links und rechts von ihm standen zwei Gefängniswärter, vielleicht eher um ihn zu stützen, als ihn an einer neuerlichen Gewalttat zu hindern. Er sah nicht so aus, als sei er in der Lage, Widerstand zu leisten, geschweige denn einen Fluchtversuch zu wagen.
Rathbone zwang sich, alle Gedanken an seinen jungen Mandanten zu unterdrücken. In diesem Falle mußte er eher seinen Verstand als sein Gefühl benutzen. Mochten alle anderen Mitleid mit Rhys haben, so sehr sie nur konnten, er brauchte einen klaren Kopf.
Es schien keine Möglichkeit zu geben, auch nur den leisesten Zweifel auf Rhys’ Schuld zu werfen, sei dieser Zweifel vernünftiger oder unvernünftiger Natur, und Rathbone rang ohne den Schimmer einer Hoffnung mit der Frage, wie er mildernde Umstände für seinen Mandanten erwirken könnte.
Wo war Monk?
Während des Nachmittags und des ganzen folgenden Tages rief Goode eine Schar von Zeugen auf, die Rhys im Laufe einiger Monate immer wieder in St. Giles gesehen hatten. Nicht einer dieser Zeugen ließ sich irgendwie in Zweifel ziehen. Rathbone konnte nur daneben stehen und zusehen. Es gab keine Argumente, die er hätte vorbringen können.
Das Gericht vertagte sich schon sehr früh. Es schien, als bliebe kaum mehr zu tun, als das Resümee des Falles zu ziehen. Goode hatte jede einzelne seiner Behauptungen bewiesen. Es gab keine andere Möglichkeit als die, daß Rhys in St. Giles Prostituierte aufgesucht und daß sein Vater ihn deswegen zur Rede gestellt hatte. Anschließend waren die beiden in einen Streit geraten, und Rhys hatte ihn getötet. Goode hatte es bisher vermieden, die Vergewaltigungen zu erwähnen, aber wenn Rathbone ihm vorwarf, das Motiv für den Mord sei zu geringfügig, um glaubwürdig zu sein, dann würde der Staatsanwalt zweifellos die mißhandelten Frauen mit ihren immer noch sichtbaren Wunden in den Zeugenstand rufen. Er hatte gesagt, daß er
Weitere Kostenlose Bücher