Stilles Echo
schließlich doch noch zu sprechen. »Es begann mit dem Mantel, könnte man sagen.«
»Mit dem Mantel? Mit welchem Mantel?« Monk hatte keine Ahnung, wovon der andere sprach.
»Ich hatte einen neuen Mantel mit einem Samtkragen. Sie haben sich einen mit Pelzkragen gekauft, gerade eine Spur besser als meiner. Wir wollten im selben Lokal speisen.«
»Was für eine Dummheit«, sagte Monk sofort.
»Also habe ich es Ihnen heimgezahlt«, erwiderte Runcorn.
»Es hatte irgendwie mit einem Mädchen zu tun. Ich weiß heute nicht einmal mehr, worum es eigentlich ging. Es kam einfach eins zum anderen, bis die Sache solche Ausmaße annahm, daß wir nicht mehr zurückkonnten.«
»Das war alles? Einfach kindische Eifersucht?« Monk war entsetzt. »Sie haben die Frau verloren, die Sie liebten – wegen eines Mantelkragens?«
Dunkles Blut schoß in Runcorns Gesicht. »Es war mehr als das!« verteidigte er sich. »Es war…« Er blickte wieder zu Monk auf, und in seinen Augen stand glühender Zorn. Er wirkte ehrlicher, als Monk ihn je zuvor erlebt hatte. Zum ersten Mal war da kein Schleier zwischen ihnen. »Es waren hundert Dinge. Sie haben meine Autorität bei den Männern untergraben, hinter meinem Rücken über mich gelacht, den Ruhm für meine Ideen geerntet, für meine Verhaftungen…«
Monk spürte, wie die Leere der Unwissenheit ihn verschlang. Er wußte nicht, ob das die Wahrheit war oder einfach die Art und Weise, wie Runcorn sein eigenes Verhalten entschuldigte. Er haßte dieses Gefühl mit der ganzen blinden, würgenden Panik der Hilflosigkeit. Er wußte nichts! Er kämpfte ohne Waffen. Es war durchaus möglich, daß er ein solcher Mensch gewesen war! Er hatte nicht das Gefühl, daß er das wirklich war, aber andererseits – wie sehr hatte sein • Unfall ihn verändert? Oder lag es einfach daran, daß er gezwungen worden war, sich von außen zu betrachten, wie ein Fremder einen anderen Menschen sah, und hatte er sich deshalb verändert?
»Habe ich das getan?« fragte er langsam. »Warum Sie? Warum habe ich solche Dinge nur Ihnen angetan? Warum niemandem sonst? Was haben Sie mir angetan?«
Runcorn sah unglücklich und verwirrt aus, als ringe er mit seinen Gedanken, Monk wartete. Er durfte nicht drängen. Ein falsches Wort, und die Wahrheit würde ihm vielleicht entgleiten.
Runcorn sah Monk in die Augen, begann aber nicht sofort zu sprechen.
»Ich nehme an, ich habe mich über Sie geärgert«, sagte er schließlich. »Sie schienen immer das richtige Wort zu wissen, die richtigen Antworten zu erraten. Sie hatten immer das Glück auf Ihrer Seite, und Sie haben niemals Platz für irgendeinen anderen Menschen gelassen. Sie konnten keinen Fehler verzeihen.«
Das war die erdrückendste Anklage. Er konnte nicht verzeihen.
»Das war falsch von mir«, sagte er ernst. »Die Sache mit Dora tut mir leid. Ich kann es jetzt nicht mehr ungeschehen machen, aber es tut mir leid.«
Runcorn starrte ihn an. »Es tut Ihnen wirklich leid!« sagte er voller Erstaunen. Er holte tief Atem und stieß ihn mit einem leisen Seufzer wieder aus. »Sie haben im Fall Duff gute Arbeit geleistet. Ich danke Ihnen.« Deutlicher konnte er Monk nicht zeigen, daß er seine Entschuldigung annahm.
Es genügte. Monk nickte.
»Ich bin aber noch nicht fertig mit dem Fall. Ich bin mir nicht sicher, was das Motiv betrifft. Der Vater war selbst mindestens für eine der Vergewaltigungen in St. Giles verantwortlich, und er hat sich regelmäßig in Seven Dials aufgehalten.«
»Was?« Runcorn schien seinen Ohren kaum zu trauen. »Das ist unmöglich! Es ergibt keinen Sinn, Monk!«
»Ich weiß: Aber es ist die Wahrheit. Ich habe ein Dutzend Zeugen. Einer der Leute hat ihn am Abend vor Weihnachten blutverschmiert in St. Giles gesehen, an einem der Abende, an dem es dort zu einer Vergewaltigung gekommen ist. Und Mrs. Kynaston und Lady Sandon beschwören, daß Rhys zu dieser Zeit bei ihnen war, meilenweit entfernt.«
»Die Anklage gegen Rhys Duff lautet nicht auf Vergewaltigung«, antwortete Runcorn stirnrunzelnd. Er schien jetzt ehrlich verunsichert zu sein, denn er verstand sein Handwerk als Polizist gut genug, um die Konsequenzen dieser Tatsache zu begreifen.
Monk verfolgte das Thema nicht weiter. Es war unnötig.
»Ich bin Ihnen sehr verpflichtet«, sagte Runcorn kopfschüttelnd.
Monk nickte, zögerte noch einen Augenblick und verabschiedete sich. Dann ging er nach Hause, um zu baden und zu schlafen. Anschließend wollte er Rathbone aufsuchen, um ihm
Weitere Kostenlose Bücher