Stilles Echo
erfahren.
Rathbone hatte die ganze Nacht lang Boten hin und her geschickt. Monk war ebenfalls im Gericht.
Rhys auf der Anklagebank sah blaß und krank aus. Er litt offensichtlich an körperlichen Schmerzen ebenso wie an dem Aufruhr seiner Gefühle. Er zeigte eine solche Verzweiflung, daß Rathbone glaubte, er habe jede Hoffnung verloren bis auf die, daß sein Martyrium irgendwann ein Ende nehmen würde.
Sylvestra saß da wie eine Frau, die in einem Alptraum gefangen war, außerstande, sich zu bewegen oder zu sprechen. Rechts und links von ihr saßen Fidelis Kynaston und Eglantyne Wade. Rathbone war froh darüber, daß Sylvestra nicht allein sein würde, obwohl es möglicherweise noch schlimmer war, daß sie solche Dinge in der Gesellschaft von Freunden würde hören müssen.
Aber es würden ohnehin alle davon erfahren. Sie konnte es nicht vertuschen, wie man solche Familiengeheimnisse vertuschen konnte. Vielleicht war es auch besser, wenn die Leute es im Gerichtssaal hörten, die nackten Tatsachen und nicht Gerüchte, die im Flüsterton erzählt und immer mehr verzerrt wurden. Aber wie auch immer, Rathbone hatte in der Angelegenheit keine Wahl. Er hatte Sylvestra nicht mitgeteilt, was er heute zu enthüllen erwartete. Nicht sie war seine Klientin, sondern Rhys. Außerdem hatte er keine Zeit und auch keine Möglichkeiten gehabt, ihr zu erklären, was er nun wußte. Er konnte auch nicht vorhersehen, was seine Zeugen aussagen würden. Was Rhys betraf, so hatte er nichts mehr zu verlieren.
»Sir Oliver?« bemerkte der Richter fragend.
»Euer Ehren«, antwortete Rathbone. »Die Verteidigung ruft Mrs. Vida Hopgood in den Zeugenstand.«
Der Richter schien überrascht zu sein, machte aber keine Bemerkung. Ein schwaches Murmeln lief durch die Zuschauermenge.
Vida trat nervös in den Zeugenstand, das Kinn hoch erhoben, die Schultern gestrafft, das prachtvolle Haar halb unter einem Hut verborgen.
Rathbone begann ohne Umschweife. Er wußte erschreckend wenig darüber, was sie sagen würde, aber er hatte keine Zeit gehabt, sich auf diese Befragung vorzubereiten. Er kämpfte um das Überleben seines Mandanten, und etwas anderes hatte er nicht in der Hand.
»Mrs. Hopgood, welcher Beschäftigung geht Ihr Ehemann nach?«
»Er hat eine Fabrik«, antwortete sie bedächtig. »Da werden Hemden und solche Sachen gemacht.«
»Und er beschäftigt Frauen, die diese Hemden… und solche Sachen nähen?« fragte Rathbone.
Auf der Galerie kicherte jemand. Es war ein nervöses Kichern. Die Leute konnten kaum angespannter sein, als er selbst es war.
»Ja«, pflichtete Vida ihm bei. Ebenezer Goode erhob sich.
»Ja, Mr. Goode«, kam ihm der Richter zuvor. »Sir Oliver, hat Mr. Hopgoods Beruf irgend etwas mit Mr. Duffs Schuld oder Unschuld in diesem Fall zu tun?«
»Jawohl, Euer Ehren«, erwiderte Rathbone ohne jedes Zögern. »Die Frauen, die er beschäftigt, haben unmittelbar mit der Sache zu tun, genaugenommen sind sie die wahren Opfer in dieser Tragödie.«
Ein Raunen der Verblüffung ging durch den Raum. Mehrere der Geschworenen blickten verwirrt und verärgert auf.
Auf der Anklagebank veränderte Rhys seine Haltung ein wenig, und ein jäher Schmerz verzerrte seine Züge. Der Richter schien nicht recht glücklich über Rathbones Bemerkung zu sein.
»Wenn Sie dem Gericht beweisen, daß diese Frauen in irgendwelcher Weise mißbraucht wurden, Sir Oliver, wird das der Sache Ihres Klienten nicht helfen. Die Tatsache, daß Sie ihre Peiniger identifizieren können, wird den Frauen zusätzliche Qual bereiten, während Sie und Ihr Mandant nichts davon haben würden. Tatsächlich würden Sie Ihren Mandanten nur in einem noch schlechteren Licht erscheinen lassen. Wenn Sie die Absicht haben, auf Geistesgestörtheit zu plädieren, dann brauchen Sie Beweise. Beweise von einer ganz bestimmten Art, was Sie jedoch sicher selbst nur allzu gut wissen. Sie haben auf ›nicht schuldig‹ plädiert. Wollen Sie daran jetzt etwas ändern?«
»Nein, Euer Ehren.« Rathbone fragte sich, ob er vielleicht einen furchtbaren Fehler begangen hatte. Was mußte Rhys nur von ihm denken? »Nein, Euer Ehren, ich habe keinen Grund zu der Annahme, daß mein Mandant nicht über einen gesunden Geist verfügt.«
»Dann setzen Sie die Befragung von Mrs. Hopgood fort«, erklärte der Richter. »Aber kommen Sie so schnell wie möglich zur Sache. Ich werde Ihnen nicht gestatten, die Zeit und die Geduld des Gerichts mit Verzögerungstaktiken zu vergeuden.«
Rathbone
Weitere Kostenlose Bücher