Stilles Echo
Mr. Goodes Einwendung scheint mir gerechtfertigt zu sein.«
»Euer Ehren, ich wollte wissen, ob Rhys Duff für einen Mann in seinem Zustand irgendwelche außergewöhnlichen Gefühle an den Tag gelegt hat. Miss Latterly hat viele schwerverletzte Männer gepflegt. Ich glaube, sie weiß besser als die meisten anderen Menschen, was sie in solchen Fällen zu erwarten hat.«
»Ich stimme Ihnen zu.« Der Richter nickte. »Sie dürfen antworten, Miss Latterly.«
»Jawohl, Euer Ehren. Rhys hatte furchtbare Alpträume, in denen er versuchte aufzuschreien. Er schlug mit den Armen um sich, obwohl seine Hände gebrochen waren und das ihm schlimme Schmerzen verursacht haben muß. Aber wenn er wach war, weigerte er sich kategorisch, auf Fragen bezüglich des Unfalls zu antworten, und er geriet in einen Zustand äußerster Erregung, bis hin zu gewalttätigen Reaktionen gegen andere, vor allem gegen seine Mutter. Dieses Verhalten konnte ich beobachten, sobald er irgendwie unter Druck gesetzt wurde.«
»Und welche Schlüsse haben Sie daraus gezogen?« fragte Rathbone.
»Ich habe gar keine Schlüsse gezogen. Ich war verwirrt. Ich … ich habe befürchtet, daß er vielleicht tatsächlich seinen Vater getötet hatte und daß die Erinnerung daran ihm unerträglich war.«
»Sind Sie immer noch dieser Meinung?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Hester holte tief Atem und stieß die Luft langsam wieder aus. Im Gerichtssaal herrschte völlige Stille. Goode runzelte die Stirn, hörte aber weiter aufmerksam zu.
»Weil ich mich, als ich ihn heute morgen stürzen sah«, antwortete sie, »für einen Augenblick an etwas erinnerte, was ich in der Armee erfahren hatte. Es schien zu grauenvoll, um wahr zu sein, aber dann war ich in seiner Zelle einige Minuten lang mit ihm alleine, bevor Dr. Wade kam. Ich habe eine sehr kurze Untersuchung seiner Verletzungen vorgenommen – der Verletzungen unterhalb der Taille.« Sie hielt inne. Ihr Gesicht spiegelte ihren Schmerz wider.
Rathbone wünschte, er hätte sie nicht zwingen müssen, dies auszusprechen, aber er hatte keine andere Wahl.
Sie las es in seinen Augen und zauderte nicht eine Sekunde lang.
»Er war vergewaltigt worden«, sagte sie sehr leise, aber sehr deutlich. »Rhys war das letzte Opfer der Vergewaltiger.«
Es folgte ein allgemeines Aufstöhnen, dann eine absolute Stille, die nur von Sylvestras Keuchen gebrochen wurde. Die Qualen, die sie im Augenblick empfand, waren unerträglich.
»Rhys und sein Vater haben sich gestritten, weil Rhys ein wenig von dem, was vor sich ging, wußte. Sein Vater hatte ihn kritisiert, weil er zu Prostituierten ging, und die Scheinheiligkeit dieses Verhaltens erzürnte ihn. Aber um seiner Mutter willen konnte er nicht offen darüber sprechen. Er stürzte aus dem Haus und ging nach St. Giles. Zufällig tat sein Vater dasselbe.«
Hester holte Atem, und ihre Stimme wurde heiserer.
»Die drei Männer haben ihn in der Water Lane überfallen«, fuhr sie fort, und obwohl das nur Hörensagen sein konnte, unterbrach Goode sie nicht. Sein außergewöhnliches Gesicht war von Entsetzen verzerrt. »Sie haben ihn niedergeschlagen und vergewaltigt«, fuhr sie fort, »wie sie zuvor die Frauen vergewaltigt hatten und vielleicht andere junge Männer. Möglich, daß wir das nie erfahren werden. Dann, als er sich wehrte und aufschrie, hat einer von ihnen innegehalten, weil ihm klar wurde, wer sein Opfer war. Leighton Duff hatte soeben seinen eigenen Sohn vergewaltigt und geschlagen.« Ihre Stimme war heiser. »Er versuchte, ihn vor weiterer Gewalt zu schützen, aber seine Gefährten waren zu weit gegangen, um sich noch zurückziehen zu können. Wenn sie Rhys am Leben ließen, würde er Anklage gegen sie erheben. Sie waren es, die Leighton Duff getötet haben. Sie glaubten, sie hätten auch Rhys getötet.«
Eglantyne Wade saß hilflos auf ihrem Platz. Fidelis hielt Sylvestra in den Armen und wiegte sie sachte hin und her, ohne die Menschen um sich herum wahrzunehmen, deren Mitleid geradezu fühlbar war.
»Wie ist es möglich, daß Sie das wissen, Miss Latterly?« fragte Rathbone.
»Weil Rhys nach dem Unfall heute morgen die Sprache wiedergefunden hat«, antwortete sie. »Er hat es mir erzählt.«
»Und kannte er auch die Namen der beiden anderen Angreifer?«
»Ja. Es waren Joel Kynaston, sein ehemaliger Schuldirektor, und Corriden Wade, sein Arzt. Das war einer der Gründe, warum er nicht einmal versuchen konnte, irgend jemandem begreiflich zu machen, was ihm zugestoßen
Weitere Kostenlose Bücher