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Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Vergewaltigung hat sich in St. Giles zugetragen.«
    »Na schön. Ich verstehe Ihren Wunsch, zu beweisen, daß die Angreifer sich in das für unseren Fall wesentliche Gebiet begeben haben. Aber fassen Sie sich kurz.«
    »Euer Ehren.« Rathbone rief die Frau auf, die am Abend vor Weihnachten vergewaltigt und geschlagen worden war. Ihr Gesicht war noch immer purpurn verfärbt und angeschwollen, und sie hatte Mühe, mit ihren abgebrochenen Zähnen zu sprechen. Langsam und mit geschlossenen Augen, um nicht die anderen Menschen im Gerichtssaal ansehen zu müssen, durchlebte sie noch einmal ihre furchtbare Angst, ihren Schmerz und ihre Demütigung.
    Rhys saß mit grauer Haut auf der Anklagebank, seine Augen so hohl, daß man sich beinahe den Schädel unter dem Fleisch vorstellen konnte. Er beugte sich zitternd über das Gitter, seine gebrochenen Hände steif zwischen den Schienen.
    Die Frau beschrieb, wie die Männer sie verhöhnt und beschimpft hatten. Einer von ihnen habe sie getreten, ihr gesagt, sie sei Abschaum, dessen man sich entledigen, von dem man die menschliche Rasse säubern müsse.
    Rhys begann, mit den Händen auf das Geländer zu schlagen. Einer der Wärter versuchte ihn davon abzuhalten, aber die Muskeln seines Körpers waren so verkrampft, daß der Mann nichts ausrichten konnte. Rhys’ Gesicht war eine Maske des Schmerzes.
    Niemand außer ihm rührte sich.
    Die Frau im Zeugenstand sprach weiter, langsam, als müsse sie jedes einzelne Wort mit Gewalt zwischen den Lippen hervorpressen.
    Sie hielt inne, die Augen vor Entsetzen geweitet, als Rhys sich losriß und den Mund öffnete. Seine Kehle rang sichtbar mit dem Laut, den sie nicht hervorstoßen konnte, als schrie er innerlich, wieder und wieder.
    Der Wärter sprang auf ihn zu und hielt ihn am Arm fest. Rhys schlug nach ihm, und sein Gesichtsausdruck war der Inbegriff von Grauen und Abscheu. Nun versuchte auch der andere Wärter, ihn festzuhalten, ebenfalls vergeblich. Rhys verlor hysterisch vor Angst das Gleichgewicht, schwankte einen Augenblick lang auf dem hohen Podest, kippte zur Seite weg und fiel über das Geländer.
    Die Geschworenen sprangen auf.
    Sylvestra schrie seinen Namen, und Fidelis schlang beide Arme um Rhys’ Mutter.
    Rhys landete mit einem furchtbaren Krachen auf dem Boden und blieb bewegungslos liegen.
    Hester war die erste, die sich rührte. Sie sprang von ihrem Platz im hinteren Teil der Galerie, am Rand einer der Sitzreihen, so daß sie im Notfall aufstehen konnte, lief durch den Saal und ließ sich neben Rhys auf die Knie nieder.
    Dann herrschte plötzlich Aufruhr. Die Leute schrien und rempelten einander an. Zeitungsreporter versuchten rücksichtslos, aus dem Saal herauszukommen, um die Neuigkeiten weiterzugeben. Ein Gerichtsdiener versuchte hilflos, ein Mindestmaß an Ordnung wiederherzustellen. Der Richter bearbeitete mit seinem Hammer sein Pult. Jemand rief nach einem Arzt für eine Frau, der eine umgestürzte Bank das Bein gebrochen hatte.
    Rathbone fuhr herum, um sich zu Rhys durchzukämpfen. Wo war Corriden Wade? Hatte man ihn weggerufen, damit er sich um die verletzte Frau kümmerte? Rathbone wußte nicht einmal, ob Rhys noch lebte oder nicht. Bei der Höhe, aus der er gestürzt war, konnte er durchaus tot sein. Es schoß ihm durch den Sinn, daß das vielleicht eine barmherzige Möglichkeit war, einem furchtbareren Ende zu entrinnen.
    War es vielleicht sogar Selbstmord, nachdem das Opfer ihm das grauenvolle Ausmaß seiner Tat vor Augen geführt hatte, nachdem er die Scham, die Demütigung, die Hilflosigkeit und den Schmerz der Frau mit ansehen mußte? War das das Äußerste, was er tun konnte, um eine Art Wiedergutmachung zu leisten?
    War dies der Gipfelpunkt von Rathbones Scheitern oder vielleicht das einzige, was er wirklich für Rhys getan hatte?
    Nur daß Rhys diese Frau gar nicht vergewaltigt hatte! Er hatte mit Lady Sandon Karten gespielt, es war Leighton Duff, der sie vergewaltigt und dann geschlagen hatte. Leighton Duff… und wer noch?
    Der Aufruhr im Gerichtssaal war ungeheuerlich. Überall riefen die Leute durcheinander und versuchten, den Weg für eine Bahre frei zu machen. Irgend jemand schrie, immer wieder, furchtlos, hysterisch. Überall drängelten die Leute, um in die eine oder andere Richtung voranzukommen.
    Hester, die sich über Rhys beugte, hatte einen verzweifelten Augenblick lang denselben Gedanken wie Rathbone. War das Rhys’ Flucht vor dem Schmerz des Körpers, der ihn quälte, und vor der größeren

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