Stilles Echo
die ganze Situation. Evan kannte Hester gut genug, um in ihrer Miene weit mehr zu lesen, als ihre Worte sagten.
»Außerdem hat Dr. Wade es verboten«, fügte sie hinzu. »Er hat Rhys’ Verletzungen gesehen und weiß um den Schaden, den neuerliche Anfälle anrichten könnten. Rhys’ Wunden könnten allzu leicht wieder aufreißen, wenn er sich herumwälzen oder sehr plötzlich und heftig bewegen würde.«
»Ich verstehe«, räumte Evan ein, während er gleichzeitig versuchte, sich das Entsetzen und den Schmerz des jungen Mannes nicht allzu lebhaft vorzustellen. Dennoch erschienen ihm Rhys’ Qualen grausam real. »Ich bin hauptsächlich gekommen, um Mrs. Duff Bericht zu erstatten.«
Hesters Augen weiteten sich. »Haben Sie irgend etwas herausgefunden?« Die merkwürdige Steifheit ihrer Haltung erweckte für einen Augenblick den Eindruck, als hätte sie Angst vor der Antwort.
»Nein.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Sie hatte ihn nicht direkt danach gefragt, aber wäre er ehrlich gewesen und hätte er auch auf ihre unausgesprochenen Fragen geantwortet, so hätte er gesagt, daß neue Verdachtsmomente gegen Sylvestra auf den Tisch gekommen waren. Er war nicht wegen einer Entdeckung hierher zurückgekehrt, sondern wegen einer Erkenntnis. »Ich wünschte, es gäbe neue Tatsachen«, fuhr er fort. »Im Augenblick geht es mir nur darum, die alten Tatsachen vielleicht ein wenig besser zu verstehen.«
»Da kann ich Ihnen nicht helfen«, sagte Hester leise. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich mir wünsche, daß Sie die Wahrheit entdecken. Ich habe keine Ahnung, worum es bei dieser Sache wirklich geht, ich weiß nur, daß Rhys es nicht ertragen kann.«
Dann öffnete sich die Tür, und Sylvestra kam herein. Sie sah Hester mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an.
»Miss Latterly sagt, daß es Mr. Duff nicht gut genug gehe, um einer Befragung ausgesetzt zu werden«, erklärte Evan. »Das tut mir leid. Ich hatte gehofft, daß es ihm ein wenig besser gehen würde, um seinetwillen ebenso sehr wie um der Wahrheit willen.«
»Nein, es geht ihm noch nicht besser«, sagte Sylvestra hastig, und Erleichterung malte sich in ihrem Gesicht ab. Ihre Dankbarkeit Hester gegenüber war unverkennbar. »Ich fürchte, er kann Ihnen nach wie vor nicht von Nutzen sein.«
»Aber vielleicht können Sie mir helfen, Mrs. Duff.« Evan war nicht bereit, sich so ohne weiteres abfertigen zu lassen. »Da ich nicht mit Mr. Duff sprechen kann, werde ich mit seinen Freunden sprechen müssen. Einige von ihnen wissen vielleicht etwas, das uns verraten kann, warum er nach St. Giles gegangen ist und wen er dort kannte.«
Hester ging lautlos aus dem Raum.
»Das bezweifle ich«, sagte Sylvestra, bevor Evan weitersprechen konnte. Dann schien sie ihre Voreiligkeit zu bedauern, nicht weil sie etwas Unwahres gesagt hätte, sondern weil es ein taktischer Fehler gewesen war. »Ich meine, zumindest glaube ich das nicht. Wenn seine Freunde etwas wüßten, dann hätten sie sich doch mittlerweile gewiß gemeldet? Arthur Kynaston war gestern hier. Wenn er oder sein Bruder irgend etwas gewußt hätten, hätten sie es uns gewiß erzählt.«
»Falls ihnen die Bedeutung dessen, was sie wissen, bewußt ist«, erwiderte Evan überzeugend, als hätte er ihr Ausweichmanöver nicht durchschaut. »Wo kann ich diese Freunde finden?«
»Oh, die Kynastons wohnen am Lowndes Square, Nummer siebzehn.«
»Vielen Dank. Ich nehme an, die Kynastons können mir auch andere Freunde nennen, deren Gesellschaft Rhys von Zeit zu Zeit suchte.« Er gab seinen nächsten Worten mit Be-. dacht einen beiläufigen Klang. »Wer könnte mit Ihrem Mann seine Mußestunden verbracht haben, Mrs. Duff? Ich meine, wer hat möglicherweise dieselben Clubs aufgesucht oder hatte dieselben Hobbys und Interessen wie er?«
Sylvestra sagte nichts, sondern sah ihn nur mit großen, schwarzen Augen an. Evan mußte noch sehr viel über Leighton Duff wissen, darüber, was für ein Mann er gewesen war. Kühn oder feige, freundlich oder grausam, ehrlich oder betrügerisch, liebevoll oder kalt? Hatte er über Witz, Charme, Güte und Phantasie verfügt? Hatte sie ihn geliebt, oder war es eine Vernunftehe gewesen, eine Ehe, die funktionierte, aber ohne Leidenschaft war? Hatte es so etwas wie Freundschaft zwischen ihnen gegeben oder Vertrauen?
»Mrs. Duff?«
»Ich nehme an, Sie könnten sich prinzipiell an Dr. Wade und Mr. Kynaston wenden«, antwortete sie. »Es gibt natürlich noch viele andere. Ich
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