Stilles Echo
Gesichtsschnittes ein wenig schief wirkte.
»Ich habe Söhne, und ich hatte Brüder, Mr. Evan. Außerdem ist mein Ehemann Rektor einer Jungenschule. Ich müßte schon mit geschlossenen Augen durchs Leben gehen, wenn ich keine Kenntnis von solchen Dingen hätte.«
»Und es fällt Ihnen nicht schwer zu glauben, daß Rhys dort hingegangen sein könnte?«
»Nein. Er war ein durchschnittlicher junger Mann mit dem üblichen Begehren, der Konvention zu trotzen und genau das zu tun, was alle jungen Männer immer getan haben.«
»Auch sein Vater vor ihm?« fragte Evan.
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Wahrscheinlich. Wenn Sie mich fragen, ob ich es weiß, dann ist die Antwort ein Nein. Es gibt viele Dinge, die eine kluge Frau nicht zu wissen vorzieht, es sei denn, man zwingt ihr dieses Wissen auf. Und die meisten Männer tun nichts dergleichen.«
Er zögerte. Spielte sie auf Prostituierte an oder noch auf etwas anderes? Er bemerkte einen Schatten in ihren Augen und eine gewisse Dunkelheit in ihrer Stimme. Sie hatte sich die Welt offensichtlich genau angesehen und viel Unschönes darin gefunden. Evan war sich ziemlich sicher, daß sie Schmerz erfahren und ihn als unvermeidlich hingenommen hatte, ihren eigenen Schmerz nicht weniger als den anderer. Konnte das mit ihrem Sohn Duke zusammenhängen? Konnte es sein, daß er eine ganze Menge mit dem Benehmen des jüngeren und leicht zu beeindruckenden Rhys zu tun hatte? Duke war genau der Typ von jungem Mann, der andere beeindruckte und zur Nachahmung herausforderte.
»Aber Sie können es vielleicht erraten?« fragte er leise.
»Das ist nicht dasselbe, Mr. Evan. Dinge, die man nur erraten kann, kann man vor sich selbst immer noch leugnen. Das Element der Unsicherheit genügt. Aber bevor Sie fragen – nein, ich weiß nicht, was Rhys oder seinem Vater zugestoßen ist. Ich kann nur vermuten, daß Rhys in schlechte Gesellschaft geraten ist und daß der arme Leighton sich solche Sorgen um ihn machte, daß er ihm an jenem Abend folgte. Vielleicht hat er versucht, Rhys zu einer Heimkehr zu überreden, und in dem darauffolgenden Kampf wurde Leighton getötet und Rhys verletzt. Es ist eine Tragödie. Mit etwas mehr Rücksichtnahme, weniger Stolz und Sturheit hätte es nicht zu passieren brauchen.«
»Gründet sich Ihre Vermutung auf Ihrer Kenntnis von Mr. Duffs Charakter?«
Fidelis hatte sich die ganze Zeit nicht gesetzt, vielleicht war es auch ihr zu kalt dazu.
»Ja.«
»Sie kannten ihn recht gut?«
»So ist es. Ich kenne Mrs. Duff schon seit Jahren. Mr. Duff und mein Mann waren enge Freunde. Sein Tod bereitet meinem Mann tiefen Kummer. Selbst seine Gesundheit hat darunter gelitten. Er hat sich eine schwere Erkältung zugezogen, und ich bin mir sicher, daß der Kummer seiner Genesung bisher im Wege stand.«
»Das tut mir leid«, sagte Evan automatisch. »Aber erzählen Sie mir doch bitte etwas über Mr. Duff. Vielleicht hilft es mir, der Wahrheit auf den Grund zu kommen.«
Fidelis besaß die Fähigkeit, an einem Platz stehenzubleiben, ohne unbeholfen zu wirken oder unnötigerweise die Hände zu bewegen. Sie war von bemerkenswerter Anmut.
»Leighton Duff war ein ausgesprochen ernsthafter Mann und mit einem gesunden Verstand gesegnet«, antwortete sie nachdenklich. »Er nahm sich seine Verantwortung stets zu Herzen. Er wußte, daß viele Menschen von seinem Talent und seiner harten Arbeit abhängig waren.« Sie machte eine knappe Handbewegung. »Nicht nur seine Familie, sondern auch all jene, deren Zukunft vom Gedeihen seiner Firma abhing. Sie wissen sicher, daß er beinahe täglich mit wertvollem Besitz und großen Geldsummen zu tun hatte.« Sie hob plötzlich den Kopf, und ihre Augen leuchteten auf, als sei ihr soeben ein neuer Gedanke gekommen. »Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum Joel, mein Mann, es so leicht fiel, sich mit ihm zu unterhalten. Sie wußten beide um die Last der Verantwortung für andere, wußten, was es bedeutet, wenn andere Menschen einem fraglos vertrauen. Es ist etwas ganz Außerordentliches, Mr. Evan, wenn andere Menschen ihr Vertrauen in Sie setzen, nicht nur in Ihre Fähigkeiten, sondern auch in Ihre Ehre, wenn sie es für selbstverständlich halten, daß Sie alles für sie tun, was notwendig ist.«
»Ja…«, erwiderte er langsam, während es ihm durch den Kopf ging, daß man auch ihm bisweilen mit jener Art von blindem Vertrauen begegnete. Es war ein bemerkenswertes Kompliment, aber gleichzeitig auch eine Last, wenn man sich der
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