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Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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erzählen. Es würde mir vielleicht helfen, den Dingen auf den Grund zu kommen.«
    Wade seufzte. »Wahrscheinlich wurden die beiden von Dieben angegriffen, ausgeraubt und geschlagen«, antwortete er unglücklich. Kummer und Ernst hielten sich in seinem Gesicht die Waage. »Spielt es jetzt noch eine Rolle, warum sie nach St. Giles gegangen sind? Haben Sie denn auch nur die geringste Hoffnung, den Schuldigen zu fassen oder irgend etwas zu beweisen? Ich habe speziell mit St. Giles nur wenig Erfahrung, aber ich habe mehrere Jahre bei der Marine zugebracht. Mir sind dabei einige rauhe Stadtviertel untergekommen, Orte, an denen verzweifelte Armut herrschte, wo Krankheiten und Tod an der Tagesordnung waren und ein Kind von Glück sagen konnte, seinen sechsten Geburtstag zu erreichen oder gar heranzuwachsen. Nur wenige dort gehen einem ehrlichen Gewerbe nach, das ihnen genug einträgt, um davon leben zu können. Noch weniger Leute können lesen oder schreiben. Es ist eine bestimmte Lebensart. Gewalt ist das Nächstliegende, das erste, woran man denkt, nicht das letzte.«
    »Ich weiß das, Sir«, erwiderte Evan. »Und ich hätte gedacht, daß ein Mann von Mr. Duffs Intelligenz und Weltgewandtheit es ebenfalls wußte.«
    »Ich denke, daß er über diese Dinge genauso Bescheid wußte wie wir«, antwortete Wade trostlos. »Er muß Rhys gefolgt sein. Sie haben Rhys nur in seinem jetzigen Zustand erlebt, Mr. Evan, als Opfer einer Gewalttat. Als einen Mann, der von Verwirrung, Angst und Schmerz gequält wird.« Er schob die Unterlippe vor.
    »Er war nicht immer so. Vor diesem… Zwischenfall… war er ein junger Mann von beträchtlicher Großspurigkeit und vielen Begierden, der wie so viele junge Menschen an seine eigene Überlegenheit und Unverletzlichkeit glaubte und sich oft den Gefühlen anderer gegenüber recht unempfänglich zeigte. Er besaß durchaus die Fähigkeit, grausam zu sein und eine gewisse Macht auszukosten.« Wades Lippen strafften sich. »Ich fälle keine Urteile, und Gott allein weiß, ich würde Rhys von alledem heilen, wenn ich nur könnte. Aber es ist nicht unmöglich, daß er eine Beziehung zu einer Frau aus diesem Viertel unterhielt und gewisse Begierden gestillt hat, ohne sich Rechenschaft darüber abzugeben, welche Konsequenzen sein Tun für andere haben mochte. Sie war vielleicht die Frau eines anderen. Vielleicht war er rauher, als es gemeinhin akzeptabel erschien. Möglicherweise hatte sie eine Familie, die…« Er machte sich nicht die Mühe, seinen Gedanken zu Ende zu führen, es war unnötig.
    Evan runzelte die Stirn und versuchte, sich einen Weg durch die verschiedenen Möglichkeiten zu ertasten.
    »Dr. Wade, wollen Sie damit sagen, daß Sie bei Rhys Duff vor diesem Zwischenfall einen Hang zur Grausamkeit oder Gewalttätigkeit beobachtet haben?«
    Wade zögerte. »Nein, Sergeant, das will ich nicht sagen«, erwiderte er schließlich. »Ich will sagen, daß ich Leighton Duff annähernd zwanzig Jahre kannte, und ich kann mir keinen einzigen Grund vorstellen, warum er in ein Viertel wie St. Giles gehen sollte. Es sei denn, um mit seinem Sohn zu reden und ihn davon abzuhalten, eine Torheit zu begehen. Sich in eine Situation zu bringen, aus der er sich allein nicht mehr befreien konnte. Im Lichte dessen, was geschehen ist, kann ich nur mutmaßen, daß er recht hatte.«
    »Hat er mit Ihnen über solche Befürchtungen gesprochen, Dr. Wade?«
    »Sie müssen doch wissen, Sergeant, daß ich Ihnen darauf keine Antwort geben kann.« Wades Stimme klang ernst, aber nicht verärgert. »Mir ist klar, daß es Ihre Pflicht ist, solche Fragen zu stellen. Aber Sie müssen verstehen, daß es meine Pflicht ist, eine Antwort darauf abzulehnen.«
    »Ja«, gab Evan ihm mit einem Seufzen recht. »Ja, natürlich weiß ich das. Ich glaube nicht, daß ich Sie noch weiter belästigen muß, zumindest heute abend nicht mehr. Ich danke Ihnen, daß Sie mich empfangen haben.«
    »Keine Ursache, Sergeant.«
    Evan stand auf und ging zur Tür.
    »Sergeant!«
    Er drehte sich um. »Ja, Sir?«
    »Ich denke, daß Ihr Fall sich möglicherweise als unlösbar entpuppen wird. Bitte versuchen Sie, soweit als möglich auf Mrs. Duffs Gefühle Rücksicht zu nehmen. Bringen Sie keine tragischen oder schmutzigen Einzelheiten im Leben ihres Sohnes zur Sprache, die der Sache nicht dienlich sein können und die seine Mutter zusätzlich zu ihrer Trauer würde ertragen müssen. Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß Rhys sich wieder erholen wird.

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