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Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Möglichkeiten eines Mißerfolges bewußt war.
    Sie war immer noch in Gedanken verloren. »Mein Mann ist in so vielen Fällen der letzte Richter«, fuhr sie fort, ohne Evan anzusehen. Sie schien ganz von eigenen Erinnerungen in Anspruch genommen zu sein. »Die Entscheidung bezüglich der akademischen Ausbildung eines Jungen und vielleicht noch darüber hinaus, die Entscheidung über seine moralische Bildung, können den Rest seines Lebens beeinflussen. Und wenn man an die Jungen denkt, die eines Tages die Geschicke unserer Nation leiten werden, die Politiker, die Erfinder, die Schriftsteller und Künstler der Zukunft, dann können diese Dinge uns alle betreffen. Kein Wunder, daß solche Entscheidungen mit großer Sorgfalt getroffen werden müssen, daß man sein eigenes Gewissen durchforsten und mit absoluter Selbstlosigkeit urteilen muß. Es darf keine Ausflüchte geben. Der Preis für einen Irrtum kann vielleicht nie mehr beglichen werden.«
    »Hatte er Sinn für Humor?« Die Worte waren ausgesprochen, bevor Evan aufging, wie unziemlich sie waren.
    »Pardon?«
    Es war zu spät, die Frage zurückzunehmen. »Hatte Mr. Duff Sinn für Humor?« Er spürte, wie die Röte ihm ins Gesicht stieg.
    »Nein!« Sie erwiderte seinen Blick, und einen Moment lang schien ein gegenseitiges Verständnis zwischen ihnen aufzukeimen, zu zerbrechlich für Worte. Dann war der Eindruck verflogen.
    Evan hatte noch immer kein Bild von diesem Mann, gewiß nichts, was erklärt hätte, weshalb er sich in St. Giles aufgehalten hätte – abgesehen von der Vorstellung, daß er einem launischen und enttäuschenden Sohn gefolgt war, dessen Vergnügungen er nicht verstand und dessen Gelüste ihn vielleicht erschreckten, da er um die Gefahr wußte, die solchen Dingen innewohnte. Wobei Krankheiten gewiß nicht die geringste dieser Gefahr darstellten. Evan wollte Mrs. Kynaston jedoch nicht die Fragen stellen, auf die er Antworten benötigte. Aber er würde sie Joel Kynaston stellen. Er mußte es tun.
    Es verging eine weitere halbe Stunde überwiegend bedeutungsloser, angenehmer Konversation, bevor der Butler wieder erschien, um zu melden, daß Mr. Kynaston nach Hause gekommen sei und Evan in seinem Arbeitszimmer empfangen werde. Evan bedankte sich bei Fidelis und folgte dem Butler.
    Das Arbeitszimmer war offensichtlich ein vielgenutzter Raum. Das Feuer in dem großen Kamin warf seinen flackernden Schein über eine Kohlenzange und eine Schaufel aus geschmiedetem Messing und funkelte auf dem Kamingitter. Evan zitterte vor Kälte, und die Wärme umhüllte ihn wie eine willkommene Decke. An den Wänden standen verglaste Bücherregale, und dazwischen hingen Bilder von ländlicher Idylle. Der Eichenschreibtisch war massiv, und es lagen drei Bücherstapel und Papiere darauf.
    Joel Kynaston saß hinter seinem Schreibtisch und sah Evan neugierig an. Seine Größe ließ sich unmöglich bestimmen, aber er machte den Eindruck eines eher schmächtigen Menschen. Sein Gesicht war scharfgeschnitten, die Nase eine Spur zu spitz, der Mund ausgesprochen eigenwillig. Dies war kein Gesicht, das man vergessen oder leicht übersehen konnte. Seine Intelligenz war offenkundig, genauso wie das Wissen um seine eigene Autorität.
    »Treten Sie ein, Mr. Evan«, sagte er mit einem leichten Nicken. Er stand nicht auf und legte damit sofort ihr Verhältnis zueinander fest. »Wie kann ich Ihnen von Diensten sein? Wenn ich etwas über den Tod des armen Leighton Duff wüßte, hätte ich es Ihnen natürlich bereits mitgeteilt. Obwohl ich die letzten Tage mit Fieber im Bett lag. Aber heute geht es mir besser, und ich kann nicht länger zu Hause bleiben.«
    »Es tut mir leid, daß Sie krank waren, Sir«, antwortete Evan.
    »Vielen Dank.« Kynaston deutete auf den Stuhl gegenüber.
    »Setzen Sie sich doch bitte. Und jetzt erzählen Sie mir, in welcher Weise ich Ihnen Ihrer Meinung nach behilflich sein kann.«
    »Ich glaube, Sie haben Rhys Duff seit seiner Jugend gekannt, Sir«, begann er. Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
    Kynaston runzelte kaum merklich die Stirn. »Ja?«
    »Überrascht es Sie eigentlich, daß er sich in einer Gegend wie St. Giles aufgehalten hat?«
    Kynaston holte tief Atem und stieß die Luft dann langsam wieder aus. »Nein. Ich bedaure sagen zu müssen, daß es mich nicht überrascht. Er war immer ungebärdig, und in letzter Zeit hat die Wahl seines Umgangs seinem Vater einige Sorge bereitet.«
    »Warum? Ich meine, was genau war der Grund dafür?« Kynaston

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