Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
sah ihn durchdringend an. Die verschiedensten Regungen huschten über sein Gesicht. Er hatte ausgesprochen ausdrucksvolle Züge, fetzt spiegelten sie Erstaunen wider, Unwillen, Traurigkeit und etwas anderes, das sich nicht so leicht deuten ließ, etwas Dunkleres, ein Gefühl von Tragödie, vielleicht sogar des Bösen.
    »Was genau meinen Sie damit, Mr. Evan?«
    »War es die Unmoral seines Tuns?« erläuterte Evan seine Frage. »Die Furcht vor einer Krankheit, vor einem Skandal oder der Schande? Die Furcht, die Gunst einer angesehenen jungen Dame zu verlieren? Oder war es das Wissen, daß sein Sohn sich damit ganz konkret in Gefahr begab?«
    Kynaston zögerte so lange, daß Evan schon glaubte, er werde nicht antworten. Als er endlich doch etwas sagte, war seine Stimme leise, sehr bedächtig, sehr präzise, und er hatte seine kräftigen, knochigen Hände vor der Brust ineinander verkrampft.
    »Etwas in all diesen Dingen, könnte ich mir denken, Mr. Evan. Ein Mann ist auf einzigartige Weise verantwortlich für den Charakter seines Sohnes. Die menschliche Existenz kann nicht viele qualvollere Erfahrungen bereithalten als mit anzusehen, wie ihr eigenes Kind, der Träger ihres Namens, ihr Erbe, ihre Unsterblichkeit immer weiter dem Weg in die Niederungen von Schwäche und geistiger sowie körperlicher Verderbnis folgt.« Kynaston bemerkte Evans Überraschung. Seine Augenbrauen hoben sich leicht. »Nicht daß ich damit andeuten will, daß Rhys verdorben wäre. Er hatte eine sehr schwache Veranlagung, die vielleicht eine größere Disziplin erfordert hätte, als ihm zuteil wurde. Das ist alles. Und es ist bei jungen Menschen keineswegs ungewöhnlich, erst recht bei einem einzigen Jungen in einer Familie. Leighton Duff machte sich Sorgen. Tragischerweise hatte er, wie es jetzt aussieht, ernste Veranlassung dazu.«
    »Sie glauben, daß Mr. Duff Rhys nach St. Giles gefolgt ist und daß der Angriff auf die beiden in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Anwesenheit dort stand?«
    »Sind Sie anderer Meinung? Mir scheint dies eine geradezu tragisch offensichtliche Erklärung zu sein.«
    »Sie glauben nicht, daß Mr. Duff unter anderen Umständen allein dort hingegangen wäre? Sie kannten ihn gut, glaube ich?«
    »Sehr gut!« sagte Kynaston mit Nachdruck. »Und ich bin mir absolut sicher, daß er nichts dergleichen getan hätte. Warum, in Gottes Namen, hätte er dort hingehen sollen? Er hatte alles zu verlieren und nichts, was irgendwie erstrebenswert gewesen wäre, zu gewinnen.« Kynaston lächelte flüchtig, es war nur die Andeutung einer bitteren Erheiterung, die unverzüglich in der Realität seiner Trauer um Leighton Duff unterging. »Ich hoffe, Sie finden den Schuldigen, Sir, aber ich fürchte, das ist eine unvernünftige Hoffnung. Wenn Rhys eine Liaison – oder Schlimmeres – mit einer Frau aus dieser Gegend hatte«, sein Mund verzog sich kaum merklich vor Abscheu, »dann möchte ich bezweifeln, daß Sie der Sache auf den Grund kommen werden. Die Betroffenen werden sich kaum freiwillig zu Wort melden, und ich könnte mir vorstellen, daß die Bewohner jener Welt ihresgleichen schützen werden, statt sich mit den Kräften des Gesetzes zu verbünden.«
    Was er sagte, entsprach der Wahrheit. Evan mußte es zugeben. Er dankte ihm und erhob sich, um sich zu verabschieden. Er wollte auch noch mit Dr. Corriden Wade sprechen, erwartete aber nicht, irgendwelche wesentlichen Dinge von ihm zu erfahren.
    Wade war nach einem langen und anstrengenden Tag bereits sehr müde, als er Evan in seine Bibliothek bat. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, und als er vor Evan durch den Raum ging, sah es so aus, als täten ihm Rücken und Beine weh.
    »Natürlich werde ich Ihnen alles sagen, was ich kann, Sergeant«, erklärte er, während er sich in einem der behaglichen Sessel in der Nähe des brennenden Feuers niederließ und Evan bedeutete, es ihm gleichzutun. »Aber ich fürchte, ich kann Ihnen nichts erzählen, was Sie nicht bereits wüßten. Und ich kann Ihnen nicht erlauben, Rhys Duff zu befragen. Er befindet sich bei sehr schlechter Gesundheit, und jede Aufregung, die ein Gespräch mit Ihnen gewiß verursachen würde, könnte eine Krise auslösen. Ich kann nicht einmal genau sagen, welche inneren Verletzungen er durch das Unglück davongetragen hat.«
    »Ich verstehe«, erwiderte Evan hastig. »Ich hatte nicht die Absicht, um einen Besuch bei ihm zu bitten. Ich habe gehofft, Sie könnten mir etwas mehr über Rhys und seinen Vater

Weitere Kostenlose Bücher