Stimmen der Angst
höher liegenden Dachschräge benutzt, über die Dusty jetzt auf allen vieren nach oben kletterte. Dann richtete er sich vorsichtig auf und nahm, geduckt wie ein Schimpanse, das letzte steile Stück in Angriff.
Als Dusty endlich am höchsten Punkt des Dachs angelangt war, schien Skeet weder erstaunt noch erschrocken, ihn zu sehen. »Morgen, Dusty.«
»Hallo, Kleiner.«
Obwohl Dusty mit seinen neunundzwanzig nur fünf Jahre älter war als Skeet, empfand er diesen immer noch als ein Kind.
»Stört’s dich, wenn ich mich zu dir setze?«, fragte Dusty.
»Aber nein – deine Gesellschaft ist mir angenehm«, sagte Skeet mit einem Lächeln.
Dusty setzte sich neben ihn, Hintern auf dem Dachfirst, die Knie hochgezogen, die Füße fest auf die gewölbten Ziegel gestemmt.
Im Osten erhoben sich in der Ferne hinter windzerzausten Baumwipfeln und einer Vielzahl von Dächern, jenseits der Schnellstraßen und Wohnblocks und jenseits des San Joaquin Valley, die Hänge des Santa-Ana-Gebirges, die jetzt, zu Beginn der Regenzeit, braun und ausgedörrt waren und um deren bejahrte Gipfel sich die Wolken wie schmutziggraue Turbane schmiegten.
Unter ihnen in der Einfahrt hatte Motherwell eine große Plane ausgebreitet, aber von ihm selbst war weit und breit nichts zu sehen.
Der Wachmann sah mit finsterer Miene zu ihnen hoch, dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Er hatte Dusty ja zehn Minuten gegeben, um Skeet vom Dach zu holen.
»Es tut mir Leid«, sagte Skeet. Seine Stimme war gespenstisch ruhig.
»Was tut dir Leid?«
»Dass ich bei der Arbeit springe.«
»Genau, du könntest dich auch in deiner Freizeit damit amüsieren«, pflichtete Dusty ihm bei.
»Klar, aber ich wollte springen, wenn ich glücklich bin, nicht wenn ich deprimiert bin. Und am glücklichsten bin ich bei der Arbeit.«
»Tja, ich versuche eben, meinen Angestellten ein angenehmes Arbeitsklima zu bieten.«
Skeet lachte leise und wischte sich mit dem Ärmel über die triefende Nase.
Skeet hatte schon immer eine schlanke Figur gehabt, aber früher einmal war er dabei drahtig und sportlich gewesen; jetzt war er viel zu dünn, regelrecht hager, und wirkte dabei so schlaff, als hätte jedes Kilo, das er abgenommen hatte, nur aus Muskelmasse und Knochensubstanz bestanden. Außerdem hatte er, obwohl er viel im Freien arbeitete, eine bleiche Hautfarbe; unter dem Hauch von Sonnenbräune, die fast grau wirkte, lag eine geisterhafte Blässe auf seinem Gesicht. Bekleidet mit schwarzen Stoffturnschuhen mit weißem Gummibesatz, roten Socken, weißen Hosen und einem hellgelben Sweatshirt mit ausgefransten Ärmeln, die locker um seine knochigen Handgelenke schlabberten, sah er aus wie ein Junge, ein Kind, das sich ohne Nahrung und Wasser in der Wüste verirrt hatte.
Skeet wischte sich wieder mit dem Ärmel über die Nase und sagte: »Muss mich wohl erkältet haben.«
»Vielleicht ist die laufende Nase auch nur eine Nebenwirkung.«
Skeets Augen, eigentlich von einem warmen Bernsteinbraun, trieften so stark, dass es aussah, als wäre ein Teil der Farbe ausgeschwemmt worden und nur ein gelblich-stumpfer Glanz übrig geblieben. »Du findest, dass ich dich hängen gelassen habe, stimmt’s?«
»Nein.«
»Doch, das tust du. Und du hast Recht damit. He, mir macht das nichts aus.«
»Du kannst mich nicht hängen lassen«, redete Dusty beruhigend auf ihn ein.
»Aber ich habe es getan. Und wir wussten beide, dass es so kommen würde.«
»Du kannst nur dich selbst hängen lassen.«
»Immer easy, Bruder.« Skeet tätschelte Dusty beschwichtigend das Knie und lächelte. »Ich mach dir keine Vorwürfe, dass du zu viel von mir erwartet hast, und mir selbst mach ich keine Vorwürfe, dass ich ein Loser bin. Das alles hab ich längst hinter mir.«
Zwölf Meter unter ihnen schleppte Motherwell ganz allein eine Doppelbettmatratze aus dem Haus.
Die Hausbesitzer hatten Dusty für die Zeit ihrer Abwesenheit einen Schlüssel überlassen, weil in den Räumen, die stark strapaziert wurden, die Wände neu gestrichen werden mussten. Dieser Teil des Auftrags war bereits erledigt.
Motherwell ließ die Matratze auf die bereitgelegte Plastikplane fallen, blickte kurz zu Dusty und Skeet hoch und ging dann ins Haus zurück.
Selbst aus zwölf Metern Entfernung konnte Dusty den missbilligenden Blick des Wachmanns erkennen, der offensichtlich nicht damit einverstanden war, dass Motherwell das Mobiliar für sein behelfsmäßiges Sprungkissen zweckentfremdete.
»Was hast du geschluckt?«,
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