Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stimmen der Angst

Stimmen der Angst

Titel: Stimmen der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
Vom Netzwerk:
der schon als Kind geistig alt ist. Mein Vater hat mich oft so genannt. Manchmal hat er nur die Anfangsbuchstaben als Abkürzung benutzt – PP. ›Na, wie geht’s denn meinem kleinen Pe-Pe heute?‹, hat er dann gesagt, oder: ›Warum gehst du nicht in den Garten und spielst ein bisschen mit Streichhölzern, wenn du nicht zugucken willst, wie ich noch einen Scotch kippe, mein kleiner Pe-pe?‹«
    »Mann, das war dann wohl nicht gerade ein Kosename, was?«, sagte Skeet mitfühlend, bei dem Wut und Schmerz ebenso schnell wieder verflogen, wie sie gekommen waren.
    »Jedenfalls nicht so schlimm wie Schlappschwanz .«
    »Welcher war noch mal dein Vater?«, sagte Skeet nachdenklich.
    »Dr. Trevor Penn Rhodes, Professor der Literaturwissenschaft, Spezialgebiet ›Theorie des Dekonstruktivismus‹.«
    »Ach ja. Dr. Dekon.«
    Den Blick versonnen auf das Santa-Ana-Gebirge gerichtet, zitierte Dusty Dr. Dekon: »Sprache kann die Wirklichkeit nicht beschreiben. Die Literatur hat keine festen Bezugspunkte, keine wirkliche Bedeutung. Alle Interpretationen der Leser haben gleichermaßen Gültigkeit und sind wichtiger als die Absichten des Autors. Genau genommen ist nichts im Leben von Bedeutung. Die Wirklichkeit ist subjektiv. Werte und Wahrheiten sind subjektiv. Das Leben selbst ist Illusion. Blah, blah, blah, darauf trinken wir noch einen Scotch.«
    Die Berge in der Ferne wirkten durchaus real. Auch das Dach unter seinem Hintern fühlte sich ganz real an, und wenn er kopfüber auf die Einfahrt fiel, würde er entweder tot oder für den Rest seines Lebens ein Krüppel sein, was der unerschütterliche Dr. Dekon zwar nicht als Argument gelten lassen würde, was für Dusty aber real genug war.
    »Hast du seinetwegen Höhenangst?«, fragte Skeet. »Hat er irgendetwas dazu getan?«
    »Wer … Dr. Dekon? Nein. Ich habe einfach Angst davor, in die Tiefe zu schauen, das ist alles.«
    »Du könntest herausfinden, warum«, sagte Skeet, der rührend um Dusty besorgt zu sein schien. »Unterhalt dich mal mit einem Psychiater.«
    »Ich glaube, ich gehe einfach nach Hause und unterhalte mich mit meinem Hund.«
    »Ich hab jede Menge Therapien hinter mir.«
    »Und es hat wahre Wunder gewirkt, wie?«
    Skeet musste so lachen, dass ihm der Rotz aus der Nase lief. »‘tschuldigung.«
    Dusty zog ein Papiertaschentuch aus der Tasche und bot es ihm an.
    Während er sich die Nase putzte, sagte Skeet: »Tja, mit mir, das ist eine ganz andere Geschichte. Seit ich denken kann, habe ich buchstäblich vor allem Angst.«
    »Ich weiß.«
    »Vorm Aufstehen, vorm Schlafengehen und vor allem, was dazwischen liegt. Aber jetzt habe ich keine Angst.« Er war jetzt fertig mit Naseputzen und hielt Dusty das Taschentuch hin.
    »Behalt es«, sagte Dusty.
    »Danke. He, weißt du eigentlich, warum ich keine Angst mehr habe?«
    »Weil du randvoll mit Dope bist?«
    Skeet nickte und schüttelte sich dabei vor Lachen. »Aber auch, weil ich das Jenseits gesehen habe.«
    »Das Jenseits wovon?«
    »Das Jenseits eben. Mir ist ein Todesengel erschienen, und der hat mir gezeigt, was uns erwartet.«
    »Du warst doch immer Atheist«, sagte Dusty.
    »Nicht mehr. Das ist alles Vergangenheit. Worüber du eigentlich froh sein müsstest, oder nicht, Alter?«
    »Du hast es einfach. Wirfst ‘ne Pille ein, und schon findest du Gott.«
    Wenn Skeet wie jetzt grinste, wirkte sein ohnehin ausgemergeltes Gesicht, in dem sich die Haut dünn über den Knochen spannte, wie ein Totenschädel. »Cool, was? Jedenfalls hat mir der Engel die Anweisung gegeben zu springen – also springe ich.«
    Auf einmal frischte der Wind auf und wehte, kälter noch als zuvor über das Dach pfeifend, den salzigen Geruch des fernen Ozeans herüber – und dann hing für einen kurzen Augenblick der üble Gestank von fauligem Seetang wie ein schlechtes Omen in der Luft.
    Der Gedanke, bei diesem stürmischen Wetter aufstehen und über ein steil abfallendes Dach laufen zu müssen, trieb Dusty den Schweiß auf die Stirn. Er betete insgeheim, dass der Wind bald wieder abflaute.
    In der Annahme, dass Skeets selbstmörderische Energie tatsächlich, wie dieser behauptete, seiner neu entdeckten Furchtlosigkeit zuzuschreiben war, und in der Hoffnung, dass eine gesunde Portion Angst den Wunsch in ihm wecken würde, doch lieber am Leben festzuhalten, ging Dusty das Risiko ein und sagte: »Wir sind hier oben nur zwölf Meter über dem Boden, und vom Rand sind es wahrscheinlich nur neun oder zehn. Da runterzuspringen wäre die Tat

Weitere Kostenlose Bücher