Stimmen der Angst
sie kurz vor dem entscheidenden Durchbruch steht.«
»Gut zu hören«, sagte Closterman.
In der sonnengegerbten Haut um seine Augenwinkel herum bildete sich ein Fächer feiner Linien, und die Mundwinkel gingen auf beiden Seiten absolut symmetrisch in die Höhe. Es war allerdings nicht das breite, gewinnende Lächeln, das man sonst an ihm kannte. Genau genommen, war es eigentlich überhaupt kein Lächeln, sondern nur eine andere Spielart seiner unergründlichen Miene; es erinnerte an das Lächeln einer Buddha-Statue, das bei aller Güte eher geheimnisvoll als fröhlich wirkte.
Ohne die Miene zu verändern, sagte er: »Sollten Sie feststellen, dass Dr. Ahriman keine neuen Patienten mehr annimmt, kenne ich da eine wunderbare Therapeutin, eine sehr einfühlsame und kluge Frau, die ganz sicher einen Termin mit Ihnen ausmachen könnte.« Er nahm Marties Patientenkarte und den Stift, mit dem sie ihm, wie sie behauptete, das Auge hätte ausstechen können. »Aber bevor weiter die Rede von Therapien ist, lassen wir jetzt erst einmal diese Tests machen. Sie werden in der Klinik nebenan erwartet, und man hat mir versprochen, Sie in sämtlichen Abteilungen quasi als Notfall außer der Reihe einzuschieben. Sie brauchen also keinen Termin. Bis Freitag liegen mir die Ergebnisse vor, dann können wir über das weitere Vorgehen entscheiden. Bis Sie angezogen und ins Nachbargebäude gegangen sind, sollte die Wirkung des Valiums eingesetzt haben. Für den Fall, dass Sie noch eine Tablette brauchen, bevor Sie in Ihre Apotheke kommen, gebe ich Ihnen das zweite Muster hier mit. Noch irgendwelche Fragen?«
Was hat er gegen Dr. Ahriman?, ging es Dusty durch den Kopf.
Er stellte die Frage nicht laut. Angesichts seines Misstrauens gegen Akademiker und Koryphäen – zwei Titel, mit denen Ahriman sich zweifellos schmücken konnte – und angesichts seiner Hochachtung für Dr. Closterman, konnte sich Dusty diese Zurückhaltung selbst nicht erklären. Dennoch blieb die Frage zwischen Zunge und Gaumen wie festgeklebt.
Wenige Minuten später, während er mit Martie den quadratischen Platz zwischen dem Ärztehochhaus und dem Klinikgebäude überquerte, wurde ihm bewusst, dass seine Hemmung, die Frage zu stellen, so merkwürdig sie – auch sein mochte, nicht annähernd so unverständlich war wie sein Versäumnis, Dr. Closterman davon in Kenntnis zu setzen, dass er bereits wegen eines Termins in Ahrimans Praxis angerufen hatte und nur noch auf dessen Rückruf wartete.
Ein schrilles Krächzen lenkte seinen Blick nach oben. Der azurblaue Himmel hatte sich mit dünnen grauen Wolkenstreifen überzogen, die wie schmutzige Wäschefetzen aussahen, und drei fette Rabenkrähen kreisten mit gelegentlichen Schlenkern in der Luft, als wollten sie Fäden aus diesem sich zersetzenden, modrigen Dunstgewebe picken, um Nester auf einem Friedhof zu bauen.
Aus einerseits begreiflichen, andererseits unerfindlichen Gründen musste Dusty an Poe denken, an den unheilverkündenden Raben, der über dem Türgesims hockte. Und obwohl Martie ihm in ihrem Valiumnebel bereitwillig ihre Hand überlassen hatte, musste er auch an Lenore denken, des Dichters verlorene Geliebte, und er fragte sich, ob das Krächzen der Krähen, in die Sprache des Raben übersetzt, »nimmermehr« heißen mochte.
*
Während Martie im Labor der hämatologischen Abteilung saß und zusah, wie sich ein Glasröhrchen nach dem anderen mit ihrem Blut füllte, unterhielt sie sich mit Kenny Phan, einem jungen medizinisch-technischen Assistenten vietnamesischer Herkunft, der mit der Nadel ihre Vene auf Anhieb und ohne das leiseste Piken getroffen hatte.
»Ich bin bei weitem nicht so unangenehm wie ein Vampir«, sagte Kenny mit einem ansteckenden Lächeln, »und habe gewöhnlich einen frischeren Atem.«
Wäre ihm selbst Blut abgenommen worden, so hätte Dusty interessiert zugesehen, den Anblick von Marties Blut dagegen konnte er nur schwer ertragen.
Da sie sein Unbehagen spürte, bat sie ihn, die Gelegenheit zu nutzen, um Susan Jagger über sein Handy anzurufen.
Er wählte Susans Nummer und ließ es zwölf Mal klingeln. Dann drückte er auf die Aus -Taste und fragte Martie nach der Nummer.
»Du kennst doch die Nummer.«
»Vielleicht habe ich sie falsch eingegeben.«
Er wählte noch einmal, sagte die einzelnen Ziffern dabei laut vor sich hin, und als er die letzte gedrückt hatte, sagte Martie: »Stimmt, das ist sie.«
Diesmal wartete er sechzehn Klingeltöne ab, bevor er das Handy ausschaltete.
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