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Stimmen der Angst

Stimmen der Angst

Titel: Stimmen der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Bedrohung –, dessen Themenspektrum von der schlichten Liebesgeschichte bis zum patriotischen Heldenepos um den tapferen Kämpfer fürs Vaterland gereicht hatte. So unterschiedlich seine Filme auch waren, hatten sie doch eines gemein: Die Zuschauer in den Kinos der Welt lösten sich in Tränen auf, wenn sie sie sahen. Manche Kritiker – obwohl bei weitem nicht alle – taten sie als sentimentalen Kitsch ab, aber das zahlende Publikum strömte in Scharen ins Kino, und Vater Ahriman hatte zwei Oscars entgegengenommen – einen für die beste Regie, einen für das beste Drehbuch –, bevor er mit einundfünfzig vorzeitig den Löffel abgab.
    Seine Filme waren Kassenschlager, weil die Gefühle, die er darin zeigte, echt waren. Natürlich besaß er die Härte und Skrupellosigkeit, die notwendig waren, wenn man in Hollywood zu den ganz Großen gehören wollte, aber er hatte auch eine empfindsame Seele und ein so weiches Herz, dass er seinerzeit unangefochtener Meister im Tränenvergießen war. Er weinte bei Beerdigungen sogar dann, wenn der Dahingeschiedene ein Mensch war, dessen Tod er sich oft und sehnlich herbeigewünscht hatte. Er weinte hemmungslos bei Hochzeiten, Jubiläumsfeiern und Scheidungsverhandlungen, bei BarMizwas und Geburtstagen, bei politischen Kundgebungen und Hahnenkämpfen, zu Thanksgiving, Weihnachten und Silvester, am Unabhängigkeitstag und am Tag der Arbeit – und am herzzerreißendsten und bitterlichsten schluchzte er am Todestag seiner Mutter, sofern er ihn nicht vergaß.
    Er war ein Mann, der alles über Tränen wusste. Wie man sie einem gütigen Mütterlein entlockte und wie einem raubeinigen Proleten. Wie man schöne Frauen damit um den Finger wickelte. Wie man sie nutzte, um Kummer, Schmerzen, Enttäuschungen und Stress wegzuspülen. Selbst Momente der Freude verschönte und veredelte er noch mit der Würze seiner Tränen.
    Dank seiner umfassenden medizinischen Ausbildung wusste, der Arzt genau, wie der menschliche Körper Tränen produzierte, speicherte und ausschied. Dennoch hoffte er, noch etwas lernen zu können, wenn er den Tränenapparat seines Vaters sezierte.
    Diese Hoffnung sollte allerdings enttäuscht werden. Nachdem er die väterlichen Lider säuberlich abgetrennt und vorsichtig die Augen entfernt hatte, entdeckte er die Tränendrüsen genau dort, wo er sie erwartet hatte: in der Augenhöhle, seitlich oberhalb des Augapfels. Ihre Form und Größe waren normal. Auch die großen und kleinen Tränenkanäle an beiden Augen waren ohne auffälligen Befund. Jeder Tränensack – eingebettet in einer Knochenrinne unter dem Lidknorpel und daher nur mit Schwierigkeiten sauber herauszulösen – hatte einen Durchmesser von dreizehn Millimetern, was bei einem Erwachsenen ganz dem Durchschnitt entsprach.
    Da der Tränenapparat winzig war und aus sehr weichem Gewebe bestand, nahm er bei der behelfsmäßigen Autopsie Schaden und taugte danach nicht mehr zur Aufbewahrung. Nun hatte der Arzt nur noch die Augäpfel, und trotz aller gewissenhaften Bemühungen hinsichtlich einer gründlichen Konservierung – Fixiermittel, luftdichte Aufbewahrung und regelmäßige Wartung inbegriffen – konnte er nicht verhindern, dass sich ihr Zustand allmählich verschlechterte.
    Kurz nach dem Tod seines Vaters war Ahriman mit den Augen nach Santa Fe, New Mexico, umgesiedelt, weil er hoffte, sich auf diese Weise einen eigenen Namen machen zu können, anders als in Los Angeles, wo er immer im Schatten des berühmten Regisseurs stehen würde. Dort, in der hoch gelegenen Prärielandschaft, hatte er seine ersten beruflichen Erfolge erzielt, aber auch seine ausdauernde Leidenschaft für Machtspiele aller Art entdeckt.
    Die Augen hatten ihn von Santa Fe nach Scottsdale, Arizona, und nun auch nach Newport Beach stets begleitet. Hier, nur eine gute Stunde von den alten Jagdgründen seines Vaters entfernt, war er, begünstigt durch den Zahn der Zeit und durch die eigenen beachtlichen Leistungen, endgültig aus dem Schatten des Patriarchen getreten, und das war für ihn ein Gefühl, als hätte er endlich den heimatlichen Hafen erreicht.
    Ahriman stieß mit dem Knie gegen den Tisch, worauf sich die Augen langsam in ihrem Formaldehydbad drehten und der Bahn der letzten gerösteten Pecannuss auf dem Weg zu seinem Mund zu folgen schienen.
    Er ließ das schmutzige Geschirr auf dem Tablett stehen, brachte aber das Glasgefäß in den Safe zurück.
    Dann zog er sich ein maßgeschneidertes weißes Hemd mit breitem Kragen und

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