Stimmen der Angst
Dickicht windbewegter Laubschatten blickten ihm, tiefblau wie zwei Edelsteine im Gesicht einer steinernen Dschungelgöttin, Marties Augen entgegen. In ihrem Blick lag keinerlei Selbsttäuschung. Kein naiver Glaube daran, dass alles sich zum Guten wenden würde in dieser besten aller möglichen Welten. Nur das nackte Eingeständnis ihrer Not.
Irgendwie schaffte sie es, die Angst vor der eigenen Gewaltbereitschaft zu überwinden, und sie hielt ihm ihre Linke hin.
Dankbar nahm er sie und hielt sie fest.
»Armer Dusty«, sagte sie. »Einen Junkie als Bruder und eine Verrückte zur Frau.«
»Du bist nicht verrückt.«
»Ich gebe mir alle Mühe.«
»Was immer dir passiert«, sagte er, »passiert nicht nur dir allein, sondern uns beiden. In dieser Sache stecken wir gemeinsam.«
»Ich weiß.«
»Zwei Musketiere.«
»Butch Cassidy und Sundance Kid.«
»Micky und Minnie.«
Er lächelte nicht. Sie ebenso wenig. Aber mit der gewohnten inneren Stärke sagte sie: »Na dann wollen wir mal sehen, ob sie Doc Closterman an der Uni etwas Vernünftiges beigebracht haben.«
44. Kapitel
Messen der Temperatur, des Blutdrucks und der Pulsfrequenz, ein behutsamer Blick durch das Ophthalmoskop erst ins linke, dann ins rechte Auge, Begutachtung der inneren Gehörgänge mit dem Auriskop, feierliches Abhören erst der Brust, dann des Rückens mit dem Stethoskop – tief Luft holen und anhalten, ausatmen, tief Luft holen und anhalten –, Abtasten der Bauchdecke, eine kurze Untersuchung der palpatorischen Reflexe, ein sanfter Schlag mit dem Hämmerchen gegen eine reizende Kniescheibe zur Überprüfung des Patellarsehnenreflexes: All diese Routineuntersuchungen brachten Dr. Closterman zu dem Schluss, dass Martie eine ausgesprochen gesunde junge Frau war, unter physiologischen Gesichtspunkten sogar noch jünger, als es ihre achtundzwanzig Lebensjahre erwarten ließen.
Dusty, der auf einem Besucherstuhl in der Ecke des Untersuchungszimmers saß, sagte: »Sie scheint von Woche zu Woche jünger zu werden.«
An Martie gewandt, fragte Closterman: »Teilt er immer so großzügig Komplimente aus?«
»Ich kann sie säckeweise einsammeln.« Mit einem Lächeln in Dustys Richtung fügte sie hinzu: »Und es gefällt mir sehr gut.«
Closterman war Ende vierzig, sah aber im Gegensatz zu Martie nicht nur wegen seiner vor der Zeit weiß gewordenen Haare älter aus, sondern war es – nach dem Maßstab seiner Testergebnisse beurteilt – sicherlich auch. Doppelkinn und Hängebacken, eine stolz zur Schau getragene Knopfnase, Augenwinkel, die vom allzu langen Aufenthalt in Meerluft, Wind und Sonne ständig gerötet waren, und eine Sonnenbräune, angesichts deren sich jeder Dermatologe den Mund fusselig geredet hätte – all das wies ihn als einen begeisterten Gourmet, Hochseefischer, Windsurfer und vermutlich auch Bierliebhaber aus. Von seiner ausladenden Stirn bis zu seiner noch ausladenderen Wampe war er der lebende Beweis dafür, welche Folgen es zeitigte, wenn man die vernünftigen Ratschläge, die er seinen Patienten, ohne rot zu werden, erteilte, in den Wind schlug.
Der Doc – wie er in Surferkreisen genannt wurde – hatte einen messerscharfen Verstand, ging mit seinen Patienten um wie ein guter Märchenonkel und war von einem Berufsethos erfüllt, mit dem er Hippokrates beschämt hätte, aber der Grund, warum Dusty ihn allen anderen in Frage kommenden Internisten vorzog, waren weniger diese vorzüglichen Eigenschaften als Clostermans menschliche, wenn auch aus medizinischer Sicht vielleicht unvernünftige Nachsichtigkeit. Er gehörte zur seltenen Spezies der Fachleute, die in der Lage waren, ohne Arroganz, völlig undogmatisch und mit unvoreingenommenem Blick an ein Problem heranzugehen, anstatt es durch die Linse vorgefasster Meinungen zu betrachten, von der sich andere selbst ernannte Experten so gern blenden ließen. Im Wissen um die eigenen Schwächen und Grenzen war er ein bescheidener Mensch geblieben.
»Kerngesund«, verkündete Closterman, während er die Untersuchungsergebnisse in Marties Patientenkarte eintrug. »Prächtige Konstitution. Genau wie Ihr Vater.«
Nur in einem Papierkittel und mit roten, heruntergerollten Kniestrümpfen auf der Kante des Untersuchungstischs sitzend, machte Martie tatsächlich einen so gesunden Eindruck wie die fanatischen Aerobiclehrer in einer dieser Fitnesssendungen im Fernsehen, deren Moderatoren offensichtlich der Meinung waren, der Tod sei eher eine persönliche Entscheidung als eine
Weitere Kostenlose Bücher