Stimmen der Angst
ein Platz frei wurde, hatten sich die Eltern der potenziellen Anwärter erbitterte Konkurrenzkämpfe geliefert. Vor zwei Jahren hatte die Mutter eines fünfjährigen Mädchens Anzeige erstattet und Mitglieder der Familie Ornwahl beschuldigt, ihre Tochter und andere Kinder in Gruppensexorgien und satanischen Ritualen sexuell missbraucht zu haben. Im Zuge der darauffolgenden Hysterie hatten andere Eltern jede Auffälligkeit im Verhalten ihrer Kinder als alarmierendes Zeichen dafür gewertet, dass diese ebenfalls missbraucht worden seien.
»Ich kannte weder die Ornwahls noch eine der Familien, deren Kinder diesen Kindergarten besuchten«, sagte Roy Closterman. »Darum hat man mich von seiten des Kinderschutzbundes und der Staatsanwaltschaft gebeten, im Rahmen meiner ehrenamtlichen Tätigkeit die betroffenen Kinder zu untersuchen und ein ärztliches Gutachten zu erstellen. Sie wurden auch von einem ehrenamtlichen Psychiater betreut. Er führte Gespräche mit den Kindern, anhand deren entschieden werden sollte, ob ihre Beschuldigungen glaubwürdig waren.«
»Dr. Ahriman«, sagte Martie ins Blaue hinein.
Roy Closterman erhob sich vom Tisch und holte die Kanne, um ihnen Kaffee nachzugießen.
»Irgendwann haben wir uns getroffen, um uns über einige medizinische Aspekte des Falls zu verständigen. Ahriman war mir von der ersten Sekunde an unsympathisch.«
Geplagt von einem plötzlichen Schuldgefühl, rutschte Dusty nervös auf dem Stuhl herum. Die beharrliche innere Stimme meldete sich wieder zu Wort und schalt ihn für seinen Verrat an dem Psychiater, für seine Bereitschaft, sich solche negativen Äußerungen auch nur anzuhören .
»Und als er beiläufig bemerkte, dass er bei einigen der Kinder Rückführungshypnosen durchgeführt hat, damit sie sich an mögliche Missbrauchserlebnisse erinnern«, sagte Clostermann, »haben bei mir sämtliche Alarmglocken geschrillt.«
»Gehört Hypnose heute nicht zu den anerkannten therapeutischen Maßnahmen?«, sagte Martie und wiederholte damit vielleicht nur das, was ihr innerer Berater ihr heimlich einflüsterte.
»Immer weniger. Ein Therapeut, der nicht über das notwendige Fingerspitzengefühl verfügt, kann, ohne es zu wollen, leicht falsche Erinnerungen erzeugen. Ein hypnotisierter Mensch ist völlig ungeschützt. Und wenn der Therapeut persönliche Ziele verfolgt und sich nicht von ethischen Grundsätzen leiten lässt …«
»Glauben Sie, dass Ahriman im Ornwahl-Fall persönliche Ziele verfolgt hat?«
Anstatt die Frage zu beantworten, sagte Closterman: »Kinder sind sehr leicht zu beeinflussen, dazu bedarf es nicht einmal der Hypnose. Eine ganze Reihe von Studien haben gezeigt, dass Kinder sich an Dinge ›erinnern‹, wenn ein suggestiver Therapeut dies möchte. Man muss in Befragungen genau aufpassen, dass man ihre Aussagen nicht in eine bestimmte Richtung lenkt. Eine so genannte verdrängte Erinnerung, die man bei einem Kind unter Hypnose zutage fördert, ist also praktisch wertlos.«
»Haben Sie Ahriman auf diesen Punkt angesprochen?«, fragte Martie.
Closterman nahm seine zuvor unterbrochene Arbeit wieder auf und begann die restlichen Paprikaschoten zu schneiden. »Das habe ich – und er hat darauf reagiert wie ein überheblicher, arroganter Idiot. Aber aalglatt. Er wäre ein erstklassiger Politiker. Auf jeden meiner Einwände wusste er eine Antwort. Leider haben damals alle anderen Leute, die an der Untersuchung des Falls mitgewirkt haben, meine Bedenken nicht geteilt. Die armen, gebeutelten Ornwahls hatten nicht die geringste Chance; es war einer dieser Fälle, in denen Massenhysterie einen fairen Prozess unmöglich macht.«
»Haben sich bei der körperlichen Untersuchung der Kinder denn irgendwelche Anhaltspunkte für einen Missbrauch ergeben?«, fragte Dusty.
»Kein einziger. Bei älteren Kindern ist eine Vergewaltigung nicht unbedingt physiologisch nachweisbar. Aber in diesem Fall hat es sich um kleine Kinder gehandelt, die noch im Vorschulalter waren. Wären einige der Dinge, die ihnen angeblich angetan wurden, tatsächlich passiert, hätte ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Gewebeverletzungen, Vernarbungen oder chronische Entzündungen festgestellt. Ahriman hat uns alle diese Geschichten von satanischen Sex- und Folterorgien aufgetischt … aber ich konnte nicht den Hauch einer medizinischen Bestätigung dafür finden.«
Fünf Mitglieder der Familie Ornwahl wurden vor Gericht gestellt, und bei der Suche nach Beweismitteln hatten die
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