Stimmen der Angst
sein dunkler werdendes Gesicht an die Fensterscheibe, im Raum wurden die Schatten dichter. Die einzige zusätzliche Lichtquelle war derzeit eine kleine batteriegespeiste Leselampe, die mit einem Klemmverschluss an dem Buch befestigt war, in dem Tom Wong, der Pfleger, gerade las.
Tom kraulte Valet hinter den Ohren, dann nutzte er die Gelegenheit ihres Besuchs, um eine Pause einzulegen.
Dusty packte leise die beiden Reisetaschen aus, verstaute den Inhalt in den Schubladen des kleinen Garderobenschranks und übernahm dann die Krankenwache im Sessel.
Es waren noch gut zwei Stunden bis zur völligen Dunkelheit, aber die Schatten im Raum spannen allmählich ein immer dichteres Netz, bis Dusty schließlich die Halogenlampe neben dem Sessel einschaltete.
Skeet lag zwar seitlich zusammengerollt wie ein Fötus auf dem Bett, aber er sah nicht aus wie ein Kind, sondern wie ein ausgetrockneter Leichnam, so knochendürr, dass man meinen konnte, ein mit Kleidern behängtes Skelett vor sich zu haben.
*
Nicht nur wegen des schlechten Wetters, sondern auch mit Rücksicht auf ihre sonderbare Verfassung fuhr Martie auf dem Heimweg sehr vorsichtig. Sie war nicht erpicht darauf, bei Tempo hundert von einer Panikattacke überrascht zu werden. Zum Glück gab es keine direkte Schnellstraßenverbindung zwischen der Balboa-Halbinsel und Corona del Mar; der Weg führte also außen herum über normale, tunnellose Straßen, auf denen die Fahrzeuge nur so dahinschlichen.
Auf dem Pacific Coast Highway, noch bevor sie die Hälfte der Wegstrecke zurückgelegt hatte, kam der Verkehr völlig zum Erliegen. Vierzig bis fünfzig Fahrzeuge vor ihr blinkten an einer Unfallstelle die Blaulichter von Krankenwagen und Polizeifahrzeugen.
Da sie im Stau stand, rief sie ihren Internisten, Dr. Closterman, über Handy an, um möglichst gleich für den nächsten Vormittag einen Termin zu vereinbaren. »Es ist ziemlich dringend. Das heißt, mir tut nichts weh oder so, aber ich würde die Sache gern, so bald es geht, mit ihm besprechen.«
»Welche Symptome zeigen sich bei Ihnen?«, erkundigte sich die Sprechstundenhilfe.
Martie zögerte. »Es ist eine sehr persönliche Angelegenheit. Ich würde lieber mit Dr. Closterman selbst darüber reden.«
»Er kommt heute nicht mehr in die Praxis. Aber ich könnte Sie morgen gegen acht Uhr dreißig noch dazwischenschieben.«
»Vielen Dank! Ich werde da sein«, sagte Martie und beendete das Gespräch.
Vom Hafen wehte ein dünner grauer Nebelvorhang herüber und legte sich wie ein vom nadelscharfen Regen festgenähtes Leichentuch über den sterbenden Tag.
Von der Unfallstelle her näherte sich auf der Gegenspur, die nur wenig befahren war, ein Krankenwagen.
Weder die Sirene noch das Blaulicht war eingeschaltet. Offensichtlich kam für den Patienten jede ärztliche Hilfe zu spät, er war schon kein Patient mehr, sondern eine Fracht auf dem Weg zum Leichenschauhaus.
Betroffen folgte Martie dem vorüberfahrenden Wagen mit den Augen, dann beobachtete sie im Seitenspiegel, wie die Rücklichter im Nebel immer kleiner wurden. Sie konnte eigentlich nicht mit Bestimmtheit wissen, ob aus dem Krankenwagen unversehens ein Leichenwagen geworden war; dennoch war sie der festen Überzeugung, dass dort ein Toter transportiert wurde. Sie konnte den Hauch des Todes fühlen.
*
Während Dusty an Skeets Krankenbett saß und auf Tom Wongs Rückkehr wartete, hätte er an alles andere lieber gedacht als an die Vergangenheit, aber ohne sein Zutun wanderten seine Gedanken zu ihrer gemeinsamen Kindheit zurück, zu Skeets herrschsüchtigem Vater – und, schlimmer noch, zu dem Mann, der dessen Nachfolge als Familienoberhaupt angetreten hatte. Ehemann Nummer vier. Dr. Derek Lampton, NeoFreudianer, Psychologe, Psychotherapeut, Vortragsredner und Autor.
Ihre Mutter Claudette hatte eine Schwäche für Intellektuelle – besonders für die Größenwahnsinnigen unter ihnen.
Skeets Vater, der angebliche Holden, war ihnen bis zu Skeets zehntem und Dustys fünfzehntem Lebensjahr erhalten geblieben. Gemeinsam hatten sie seinen Abgang gefeiert, indem sie die ganze Nacht aufblieben, sich Horrorfilme ansahen und Unmengen von Chips und Schokoladeneis in sich hineinschlangen, alles Dinge, die unter dem strengen Fettarm-salzloszuckerfrei-zusatzstofflos-freudlos-Regiment des Haustyrannen für Kinder – nicht aber für Erwachsene – verpönt waren. Am Morgen nach der nächtlichen Fressorgie hatten sie es, mit Ringen unter den Augen und einem mulmigen
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