Stimmen der Nacht
sinken und röchelnd zu verstummen.
Die Schreie des Schwarzbarts und der Alten waren die einzigen menschlichen Laute im lärmenden Streit der Waffen, und bald war alles vorbei. Das Dorf lag in Schutt und Asche; was nicht gesprengt war, brannte, und das Feuer griff an einigen Stellen bereits auf den Wald über. Irgendwo heulte jämmerlich ein Hund, und am jenseitigen Ufer des kleinen Flusses, halb in die Fluten getaucht, lag die Leiche einer der Dorffrauen, einen großen gezackten Granatsplitter im Rücken.
Die ersten Schüsse hatten Gulfs Wächter niedergestreckt. Noch halb schlafend, hatte er gespürt, wie man seine Fesseln zerschnitt, war hochgeschreckt und von Soldaten mit geschwärzten Gesichtern fortgezerrt worden, fort von dem Lager, dem Kampf, dem Sterben. Die Soldaten in den braungrüngefleckten Kampfanzügen, Spezialisten der Allied Counterguerilla Force, hetzten ihn durch den Wald, vorbei an den Leichen der Werwolf-Wachen, die gestorben waren, ohne Alarm geben zu können.
Der Angriff des alliierten Anti-Terror-Kommandos war aus heiterem Himmel erfolgt.
Gulf stolperte mechanisch weiter, zu sehr unter Schock, um erleichtert zu sein, noch immer erfüllt von den grausigen Bildern des Todes, der Zerstörung. Die alliierten Soldaten waren bei der Vernichtung des Dorfes ebenso rücksichtslos vorgegangen wie die Werwölfe beim Überfall auf den französischen Militärkonvoi. Hier im Krautland gehörte das Sterben zum Alltag, und sowohl die Deutschen als auch die Besatzungsmächte schienen diese Tatsache mit Gleichmut zu akzeptieren.
Erst in diesem Moment begann Gulf die wahren Ausmaße der Geschehnisse hinter den knappen Meldungen in den Zeitungen zu erahnen, den Dreizeilern über Scharmützel im alten Reich, über lokale Aktionen der alliierten Truppen gegen den Werwolf-Orden, Strafexpeditionen im Bayerischen Wald oder Terroranschläge in der Lüneburger Heide. Erst jetzt begriff er, was Guerillakrieg bedeutete: Plötzliches Sterben und wahlloses Morden, brutale Zerstörung und Todesschreie in der Nacht.
Die Frauen und Kinder im Dorf, dachte Gulf, schlafend in den Betten, als die Hubschrauber kamen.
Er versuchte, mit den Soldaten, die ihn befreit hatten, zu reden, aber sie schüttelten nur den Kopf und sagten: »Später. Der General wartet.«
Der General, natürlich, dachte Gulf. Er wartet. Darauf, daß ich die Stimmen zum Schweigen bringe.
Endlich erreichten sie einen holprigen Waldweg, auf dem ein halbes Dutzend Jeeps, Mannschaftstransporter und Schützenpanzer standen. Zwischen den Fahrzeugen ein Klapptisch, auf dem eine Landkarte ausgebreitet war, von zwei Steinen beschwert, umringt von Offizieren. Die Offiziere sahen ihm entgegen, mit Blicken, die ihn an die Blicke der Werwölfe erinnerten, voller Scheu, in die sich leises Grausen mischte.
Ihre Gesichter verrieten keine Freundlichkeit, und fast hatte Gulf den Eindruck, daß sie es vorgezogen hätten, ihn im tiefen Wald vermodern zu lassen.
Einer der Offiziere, ein Oberst mit einer Narbe an der linken Wange und wimpernlosen Lidern, deutete auf Gulfs verbundene Schulter.
»Brauchen Sie einen Arzt?« schnarrte er, ohne ihm zuvor einen Gruß zu entbieten oder ein Lächeln, irgendeine Geste, die Anteilnahme verriet.
Gulf verzichtete auf eine Antwort. Einen Moment lang sagte niemand etwas. Es war Elizabeth, die schließlich das Schweigen brach. Aus dem Nichts heraus sprach sie, aus den Baumwipfeln und dem Grün der Farne, aus dem Unterholz, der Dämmerung des Waldes.
»Spürst du es?« fragte sie. »Spürst du, wie die Mauern durchlässig werden und die alten Grenzen schwinden, wie alles zusammenrückt und sich vereint, wie das, was ewig getrennt war, zueinander findet? Spürst du, wie Tag und Nacht ihre Gegensätze verlieren und das Leben zum Tode, der Tod zum Leben wird? Du willst mich meiden, Jakob, willst dich nicht mit mir vereinen, aber du bist bereits hier, ein Stück von dir ist hier bei mir, und du wirst immer mehr. Spürst du es, Jakob, sag, spürst du es?«
Ja, er spürte es.
Wie die Offiziere und die Soldaten spürte er es: wie der Wald an Stofflichkeit verlor, der Himmel durchsichtig wurde, die Luft entwich, der Boden bröckelte, lautlos in die Leere rieselte, wie die Farben verblaßten, wie alles verging, bis nicht einmal mehr die Schatten blieben …
»Nach Köln!« stieß der Oberst hervor. »Sie müssen nach Köln. Jetzt. Schnell.«
Er spuckte die Worte aus, wie man eine faule Nuß ausspuckt. Die Narbe an seiner Wange hatte sich
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