Stimmen der Nacht
es steht vorübergehend wieder auf. Man kann es spüren, riechen, schmecken. Im Ritual der Götterdämmerung finden sich die Deutschen wieder. Es ist tatsächlich ein Ritual, eine sakrale Handlung wie das Abendmahl. Für begrenzte Zeit erhalten die Deutschen ihre verlorene Seele zurück. In einer kollektiven Erinnerung versetzen sie sich in die dreißiger Jahre, und es ist, als hätte es den Krieg, den Morgenthau-Plan, den Großen Exodus nie gegeben, als wären die Erdteile verrutscht, über den Globus gewandert, als hätten Deutsch-Amerika und das Reich ihre geographische Lage vertauscht. Es ist faszinierend, Jakob. Massenhysterie. Wenn man sie in Germania erlebt hat, kann man sich vorstellen, wie es damals im Berliner Sportpalast gewesen ist, bei den Reden des kleinen Doktors. All dieses Geschrei vom Totalen Krieg und vom Endsieg und dann die jubelnden Bein- oder Armamputierten von der Ostfront und die halb ohnmächtigen BDM-Mädchen mit ihren nassen Höschen …«
»Deine Zigarette«, unterbrach Gulf. »Sie verbrennt dir die Finger.«
Elizabeth warf die Zigarette in den Aschenbecher. »Wagners Denkmal in Germania, auf dem Platz des deutschen Volkes, ist fast so hoch wie Hitlers Bronzestatue. Das zeigt, wie wichtig Wagner für die Deutschen ist. Ich weiß nicht, wer der Bildhauer war …«
»Breker. Arno Breker«, sagte Gulf. »Hitlers Lieblingsbildhauer. Derselbe NS-Breker, der die Monumentalfiguren Die Partei und Die Wehrmacht gleich neben dem Portal der einstigen Berliner Reichskanzlei geschaffen hat.«
»Ich hätte Berlin zu gern gesehen. Das Brandenburger Tor, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Unter den Linden … Alles von der Atombombe verbrannt oder zu Schutt zerfallen. Man hätte Berlin erhalten sollen; als archäologisches Denkmal wie Troja oder Pompeji. Germania in Brasilien ist kein Ersatz; trotz des hundert Meter hohen Triumphbogens und der Kuppelhalle des Führers, die die Stadt wie ein grüner Berg überragt. Etwas fehlt. Dieses gewisse Fluidum …«
»Der Geruch fehlt«, sagte Gulf. »Der Geruch von Blut und Boden. Ich kenne deine Dias. Diese Stadt erschlägt einen Menschen. Nicht einmal Bormann fühlt sich in Germania wohl, oder er hätte sich in der Hauptstadt niedergelassen, statt sich in seinen Andenbunker zu verkriechen. New York ist schon schlimm genug, aber Germania ist ein Alptraum.«
»Du kommst also nicht mit in den Ring?«
»Ich habe dir schon gesagt, daß Ryan …«
»Es ist immer irgend jemand, nicht wahr? Es ist immer irgend etwas. Immer wartet jemand; immer muß etwas erledigt werden; immer ist da ein wichtiger Termin, eine Besprechung, eine Probe, ein Auftritt. Seit drei Monaten, seit meiner Rückkehr aus Deutsch-Amerika, haben wir nicht einen einzigen Tag für uns allein gehabt. Wenn wir uns sehen, dann wie jetzt in irgendeinem Restaurant, auf irgendeiner Party oder im Studio! Diese verdammte Show!«
»Es läßt sich nicht ändern«, entgegnete Gulf barsch. Wie oft? fragte er sich. Wie oft haben wir schon derartige Gespräche geführt? »Du weißt, wie wichtig die Show ist. Für mich. Für dich. Für uns beide. Ohne Abenteuer Live würden wir jetzt nicht hier sitzen können. Ohne die Show würden wir noch immer in dieser Mansarde in der Westside hausen. Und sag nicht, daß dir unser Penthouse in der Park Avenue nicht gefällt. Ohne die Show könntest du dir deine Reisen nach Deutsch-Amerika nicht erlauben. Ohne die Show gäbe es keine Einkäufe bei Saks und Tiffany, keinen Mercedes aus Brasilien und …«
»Gib dir keine Mühe. Ich kenne die Predigt schon. Du solltest sie auf Band aufnehmen.« Sie lächelte gläsern, gefroren. »Und vergiß nicht zu erwähnen, wie dankbar ich dir doch dafür sein müßte und wie ungerecht es doch von mir ist, dich ständig mit meinen Vorwürfen zu belästigen, wo du doch nur das Beste für mich willst und achtzehn Stunden am Tag arbeitest und freiwillig auf jedes Privatleben verzichtest …«
»Wenn man etwas erreichen will, muß man hart dafür arbeiten. Zum Teufel, ich habe zehn Jahre auf eine Chance wie Abenteuer Live gewartet, und jetzt ist sie da. Die Einschaltquoten sind höher als bei jeder vergleichbaren Sendung der anderen großen Networks. Ich verdiene einen Haufen Geld, mehr, als ich mir jemals erträumt habe, und wir können uns endlich alles leisten, was wir wollen. Verdammt«, stieß Gulf hervor, »was ist los mit dir? Ich weiß, daß wir wenig Zeit füreinander haben, aber in ein paar Tagen fliegen wir nach Kalifornien.
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