Stimmen der Nacht
wenn sich euer Abenteurer den Hals bricht. Und die Splitter seiner Skier könntet ihr für teures Geld als Andenken verkaufen.«
Gulf kniff die Lippen zusammen.
»In Chicago gibt es jetzt einen neuen Sport«, fuhr Elizabeth fort. Ihre Stimme klang unbeteiligt. »Die Jugendlichen nennen es Schlachthof-Roulette. Sie verbinden sich die Augen und spazieren im Stoßverkehr über die Hauptverkehrsstraßen. Wenn sie Glück haben, werden sie von ihren Freunden als Helden gefeiert; wenn sie Pech haben, von den Autos geschlachtet. Wäre das nichts für Abenteuer Live?«
»Zu blutrünstig«, erwiderte Gulf. »Und zu realistisch. Die Leute mögen es nicht, wenn sie auf dem Bildschirm sehen, daß direkt vor ihrer Haustür ein Krieg tobt.«
Elizabeth kippte den Cognac in den Kaffee und fügte Zucker und Kaffeeweißer hinzu. »Heute abend beginnt im Madison Square Garden der erste Teil der Ring- Inszenierung. Ein einmaliges Gastspiel der Reichsopernkammer von Bogotá unter der Leitung Herbert von Karajans.« Sie zündete eine neue Zigarette an, rauchte aber nicht, sondern ließ sie zwischen den Fingern verqualmen; es war, als stiege Nebel von ihren schwarzen Netzhandschuhen auf. »Karajan war auch auf dem Botschaftsempfang. Cynthia wollte sich mit ihm unterhalten, aber sie versteht kein Wort Deutsch, und Karajan weigert sich noch immer, Englisch zu sprechen. Luthers erbot sich, zu dolmetschen, aber da mußte der Maestro auch schon gehen. Als Entschädigung hat uns der Kulturattaché Karten für alle Ring- Teile geschenkt. Wenn wir in einer halben Stunde aufbrechen, bleibt uns noch genug Zeit, uns umzuziehen und zum Broadway zu fahren.«
»Du weißt, daß Wagner mich nicht interessiert«, wehrte Gulf ab. »Für mich ist der Ring des Nibelungen bestenfalls eine Kuriosität. Ich kenne keine Oper, die konfuser ist – allein die Verwandtschaftsverhältnisse! Einfach grotesk! Siegfried, zum Beispiel, ist der Sohn seines Onkels, der Neffe seiner Mutter, und als Neffe und Sohn seiner Tante ist er gleichzeitig sein eigener Vetter. Und als wäre das nicht genug, ist er außerdem der Neffe seiner Frau und somit sein angeheirateter Onkel und sein angeheirateter Neffe. Er ist Neffe und Onkel in einer Person! Ganz davon zu schweigen, daß er der Schwiegersohn seines Großvaters Wotan und der Schwager seiner Tante ist, bei der es sich natürlich um seine Mutter handelt. Siegmund ergeht es nicht besser. Er ist der Schwiegervater seiner Schwester Brunhilde, Schwager seines Sohnes, der Mann seiner Schwester und der Schwiegervater seiner Frau, deren Vater wiederum der Schwiegervater seines Sohnes ist. Wagner muß bei der Niederschrift den Überblick verloren haben. Nichts für mich. Außerdem – du scheinst vergessen zu haben, daß heute abend der Presseball stattfindet. Ryan von Newsweek erwartet uns. Das Interview …«
»Ich habe dir schon hundertmal gesagt, daß ich diese schwachsinnigen Frage-und-Antwort-Spiele satt habe.« Ihre Stimme Hang schneidend.
»Schon gut.« Gulf lehnte sich zurück. Er hatte plötzlich Kopfschmerzen; Druck lag wie ein Eisenring um seinen Schädel. Es ist der Kaffee, dachte er. Ich vertrage das Koffein nicht mehr. Statt mich zu beleben, erschöpft es mich. Ich werde alt, sagte er sich deprimiert. Das ist es. Ich werde alt. »In Ordnung. Ich werde Ryan sagen, daß du verhindert bist.«
»Komm mit in den Ring«, bat Elizabeth. »Mir zuliebe.« Ihre Augen waren noch immer aus Glas, aber als sich ihre Blicke begegneten, glaubte Gulf einen Hauch Rotbraun im blanken Kristall ihrer Pupillen zu entdecken.
»Es geht nicht. Du weißt, daß es nicht geht. Das Newsweek- Interview ist Teil der PR-Kampagne für die Jubiläumsshow. Barmingham wird mich steinigen, wenn ich Ryan versetze.«
»Dir ist es egal, was Barmingham denkt. Wahrscheinlich ist dir auch dieses verdammte Interview egal. Du willst nur nicht in den Ring, weil du ihn nicht verstehst. Du solltest nach Deutsch-Amerika fahren«, sagte Elizabeth. »Man muß eine Zeitlang im Deutschen Viertel von Rio oder Santiago gelebt haben, um den Ring des Nibelungen verstehen zu können. Erst dann begreift man die wahre Bedeutung, die Wagner für die Deutschen hat. Es ist nicht die Oper selbst; es ist das Gefühl, das sie vermittelt.
Wenn die Thing-Festspiele in Germania beginnen, mit all den Sonnwendfeiern und Fackelzügen, fühlt man sich nach Bayreuth versetzt. In diesen Tagen ist das Reich nicht zehntausend Kilometer entfernt; es ist nicht tot und zerschlagen, sondern
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