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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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von Neufundland in See sticht, als handele es sich dabei um einen Tagesausflug auf dem Hudson River, der schreckt auch nicht vor dem Mond oder der Sonne zurück.
    Gulf seufzte erneut und blätterte weiter.
    Ein Latinodeutscher aus Paraguay, im Hauptberuf NS-Reliquien-Händler, plante, auf einem Flugzeug stehend von Caracas nach New York zu fliegen. Die Lufthansa sollte das Unternehmen sponsern, aber die Zustimmung des Morgenthau-Airports fehlte noch, und Goldberg hatte mit seiner klaren, feinen Handschrift am Rand vermerkt, daß ein ähnlicher Versuch vor drei Jahren mit tödlichen Konsequenzen gescheitert war.
    Also nichts für den Live-Block, dachte Gulf.
    »Hallo, Jakob«, sagte Elizabeth.
    Er sah von seinen Papieren auf. Sie war blaß; dünn und blaß, wie Goldberg gesagt hatte. Merkwürdig, daß es ihm erst jetzt auffiel.
    »Ich habe mir Sorgen gemacht«, bemerkte er. »Wegen dem Blizzard. Alles in Ordnung?«
    »Natürlich ist alles in Ordnung. Es ist doch immer alles in Ordnung.«
    Gereizt strich sie über ihren schwarzen, knielangen Rock, nahm auf Goldbergs Stuhl Platz und schlug die schwarzbestrumpften Beine übereinander. Ein Tropfen Schmelzwasser rann über den Schaft ihres linken Stiefels und versickerte im Teppichboden. In ihren braunen Locken glitzerten Eiskristalle: gläsern und kalt wie ihre Augen, denn ihre Augen waren gefroren. Das vertraute, warme Rotbraun war vom Winter gebleicht, die Pupillen waren Glasmurmeln, in denen sich das Schneetreiben spiegelte.
    »Eine geschlagene Stunde habe ich auf das verdammte Taxi warten müssen, und als es endlich kam, war die Wagenheizung defekt. Und hundert Meter von hier versagte der Motor. Ich mußte zu Fuß durch das Schneetreiben. Es war einfach reizend.«
    »Das tut mir leid.« Gulf schob Goldbergs Unterlagen zur Seite. »Möchtest du etwas trinken? Einen Cognac?«
    »Und einen Kaffee.«
    Gulf signalisierte dem Kellner. »Wie war der Empfang?«
    »Sterbenslangweilig. Der einzige interessante Mensch war der bolivianische Kulturattaché; Adolf Luthers. Er sagte mir, daß er der Enkel eines früheren Botschafters in den USA ist. Sein Großvater hat 1936 am Flug der Hindenburg teilgenommen.«
    »Bei der Brandkatastrophe?«
    »Das war 1937.« Elizabeth klappte ihre schwarze Lederhandtasche auf und griff nach ihren Zigaretten und dem Feuerzeug. »Luthers erzählte, daß man in Brasilien plant, lenkbare Luftschiffe für den Gütertransport im Binnenverkehr einzusetzen. Angeblich wollen irgendwelche lokalen Parteigrößen Bormann einen Nachbau der Hindenburg zum Geburtstag schenken. Der Jungfernflug soll ins alte Reich gehen. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, daß der Präsident einem latinodeutschen Luftschiff erlauben wird, über den Ruinen von Berlin zu kreisen.« Sie zündete eine Zigarette an und rauchte hastig, nervös.
    »In Life stand vor ein paar Monaten, daß Boeing mit Luftschiffen aus superleichten Kevlarzellen und nichtexplosiven Gasgemischen experimentiert«, erinnerte sich Gulf. Er schwieg für einen Moment, als der Kellner Elizabeth den Kaffee und den Cognac servierte. »Aber ich wäre überrascht, wenn sich die Zeppeline durchsetzen würden. Diese schrecklichen Unfälle in den dreißiger Jahren … Ich würde nie freiwillig in ein Luftschiff steigen.«
    »In der Botschaft gab es ein Hindenburg- Essen«, sagte Elizabeth. Ihre Augen waren auf ihn gerichtet, aber sie schien ihn nicht zu sehen. Ihr Blick war leer, blank wie der Neuschnee auf den Dächern der Stadt. »Das gleiche Menü, das am 9. Oktober 1936 auf der Hindenburg serviert wurde, kurz vor der Ankunft in Lakehurst. Indische Schwalbennestersuppe, kalten Rheinlachs, Filetsteak und Chateaukartoffeln, Prinzeßbohnen und Carmen-Salat, geeiste kalifornische Melonen, türkischen Kaffee und französisches Gebäck. Und den ältesten Wein, den ich je getrunken habe: 1934er Piesporter Goldtröpfchen und einen 1928er Feist Brut. Die Deutschen verstehen zu leben.«
    Und was gab es noch? dachte Gulf. Kolumbianischen Schnee? Kalte Kristalle aus den NS-Koksküchen in den Anden? Aber er unterdrückte die Bemerkung und sagte statt dessen: »Ich soll dich von Gabriel grüßen. Leider mußte er schon gehen …«
    »Hat er neue Verrückte für dich aufgetrieben? Vielleicht einen Spinner, der auf dem Annapurna skifahren will? Vom achttausend Meter hohen Gipfel hinunter ins Tal? Rote Blutstropfen im Weiß der Gletscher ergeben bestimmt phantastische Aufnahmen. Die Zuschauer werden vor Begeisterung rasen,

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