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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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Stimmen nur der Anfang sind. Sie glauben, daß die Toten irgendwann auch in Fleisch und Blut zurückkehren werden, daß sie leibhaftig wiederauferstehen! Ja, es ist die logische Konsequenz. Zuerst die Stimmen, dann Fleisch und Blut. Wir sollten uns damit abfinden. Damit wir vorbereitet sind, wenn es soweit ist.«
    »Sie haben resigniert«, stellte Carmichael fest.
    »Resigniert? Wenn Sie wollen, nennen Sie es Resignation. Aber Sie haben nicht erlebt, was ich erlebt habe. Diese vier Jahre … Können Sie sich vorstellen, wie es ist, niemals Ruhe zu haben, niemals allein zu sein, jeden Augenblick damit rechnen zu müssen, daß Ihre tote Frau zu reden beginnt und von der Vergangenheit spricht, nur von der Vergangenheit, weil ihr nicht mehr geblieben ist? Und Sie können nur zuhören. Sie können nicht antworten, nichts erklären, keine Fragen stellen, nichts. Da sind nur Sie und diese Stimme. Sie schweigen und die Stimme spricht. Das ist alles. Vier Jahre lang. Und dann der Flug ins Reich …«
    Gulf beugte sich nach vorn.
    »Der Flug hat mir geholfen. Er hat mir geholfen, bei Verstand zu bleiben. Denn ich weiß jetzt, daß ich nicht allein bin. Es hat die Sache weniger persönlich gemacht, verstehen Sie? Es ist nichts, was allein auf Elizabeth und mich beschränkt ist. Keine Nemesis. Das ist wichtig. Es verändert alles.«
    Er wollte noch mehr sagen, aber bevor er weitersprechen konnte, erklang eine andere Stimme, eine kalte Stimme, voller Gift und Tücke. Wenn sie wollte, konnte sie schmeicheln und loben, und wenn sie wollte, konnte sie witzeln und scherzen, und wenn sie wollte, konnte sie im nächsten Atemzug höhnen und geifern und hinterrücks töten. Die Stimme drang aus dem Nichts; sie wohnte im Holz der Decke, in den Planken des Bodens, in den Schatten der Winkel.
    Gulf kannte die Stimme. Er hatte sie im Dom gehört, in der vergangenen Nacht, der Nacht, die von den Toten in Besitz genommen worden war.
    »Es ist für ein Volk nicht schwer, im Unglück zusammenzustehen«, sagte Joseph Goebbels aus dem Nichts, in dem er körperlos hauste. »Schwer aber ist es, Unglück gemeinsam und aufrecht zu ertragen. Die schweren Schläge, die die deutsche Nation getroffen haben, haben jeden einzelnen von uns getroffen. Aber Unglück und Schmerz gemeinsam zu ertragen, das haben wir Deutsche wieder gelernt. Und aus dieser Kraftlosigkeit und Ohnmacht wird sich wieder strahlend und stark das ewige Deutsche Reich erheben, dieses ewige Deutsche Reich, zu dem zu bekennen heute keine Schande mehr sein kann, denn die Jahre, da wir in Schmach und Demütigung versanken, liegen hinter uns, und vor uns liegen die Jahre, da das Reich sich wieder zu neuer Macht und zu neuem Ansehen erheben wird …«
    Und als Goebbels verstummte, ergriff Hitler das Wort, und als Hitler schwieg, sprach Göring, und nach Göring schwatzte Himmler, und nach Himmler Rosenberg, und nach Rosenberg noch einer und noch einer, und Gulf und Carmichael konnten nichts tun, sie konnten nur dasitzen und den Stimmen zuhören, die den Dom zu Köln verlassen hatten und mit ihnen auf der Madeleine eingekehrt waren.

9
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Der Rhein
war klar
und
fischreich.
Breit und
behäbig
    geworden, im Sonnenlicht glitzernd, flutete er durch grünes, ebenes Land. Die Wälder hatten weiten Wiesen und die Ruinen umzäunten Weiden Platz gemacht, auf denen Kühe, Pferde, Ziegen und Schafe grasten. Hier und da überragte eine Windmühle das Flachland, versorgte einen Bauernhof mit Strom, und je näher die Madeleine der niederländischen Grenze kam, desto zahlreicher wurden die großen, kreisenden Windmühlenflügel.
    Die meiste Zeit verbrachte Gulf unter Deck; in den letzten Stunden waren sie mehrfach vom Ufer aus beschossen worden, und vielleicht war das der Grund dafür, daß ihm Fouchet und seine Leute mit wachsender Feindseligkeit begegneten. Vielleicht sollte die Feindseligkeit aber auch nur ihre Furcht maskieren, die Furcht vor den gespenstischen Stimmen, die er mit aufs Schiff gebracht hatte.
    Die Stimmen schwatzten in den Laderäumen und im Ruderhaus, in der Kombüse und den Kajüten, in den Kisten und Fässern, die festgezurrt die Reling säumten. Sie tanzten auf dem Wasser und wirbelten durch die Luft, schlugen wilde Kapriolen, unsichtbar, aber allgegenwärtig, sie zankten sich in der Gischt, im Mahlstrom der Schiffsschraube, rasten im Rauschen des Stroms, drohten, fluchten, phantasierten.
    »Das deutsche Volk«, schrie Goebbels den Männern der Madeleine zu, »das deutsche Volk ist

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