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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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Grenztruppen aufzunehmen. Die Madeleine wurde langsamer. Gulf vertrat sich die Beine an Deck und beobachtete, wie zwei der Schnellboote beidrehten und die Madeleine in die Mitte nahmen. Soldaten machten sich bereit, auf den Lastkahn überzusetzen, aber dann drehten die Boote wieder ab und beschleunigten, daß die Gischt ihre Hecks wie Nebel einhüllte.
    »Alles in Ordnung«, sagte Carmichael zufrieden, als Gulf ins Ruderhaus zurückkehrte. »Wir können passieren. Vor zwei Stunden haben die Holländer ihre Grenzen zum Restreich wegen dem Aufstand der Werwölfe geschlossen, aber die Firma hat die zuständigen Stellen gebeten, uns durchzulassen. Wir werden bereits in Rotterdam erwartet.«
    Die Madeleine näherte sich der Grenzlinie, manövrierte in die markierte Fahrrinne zwischen den schaukelnden Bojen, vorbei an einem der wendigen holländischen Patrouillenboote, und dann hatten sie das Reich verlassen.
    Gulf schloß für einen Moment die Augen. Eine Last schien von ihm zu fallen, so wie die Schwere eines Alpdrucks nach dem Erwachen: Die Ruinen, die leeren Geisterstädte, die verrückten Deutschen mit ihrem unstillbaren Haß und ihrer hoffnungslosen Rachsucht – alles lag hinter ihm. Nur noch ein paar Stunden, und er würde wieder in den Staaten sein.
    Und die Stimmen?
    Er horchte, aber die Stimmen schwiegen. Die Stunden verstrichen, und sie blieben still. Die Madeleine erreichte den Hafen von Rotterdam, ohne daß sich eins der Gespenster zu Wort meldete. Vielleicht schliefen sie, oder sie spürten auf unerklärliche Weise, daß der Aufenthalt in der Alten Welt zu Ende ging und daß die Neue Welt sie erwartete. Und Gulf fragte sich, was geschehen würde, wenn er die Staaten erreichte und sich nach Washington begab, ins Weiße Haus, ins Oval Office, wo Henry Morgenthau von den Toten auferstanden war und vom großen Krieg der Vergangenheit erzählte, von den grausigen Untaten der Deutschen und der gnadenlosen Strafe, die sie dafür verdienten.
    Würde Morgenthau Hitler hören können? Und wenn er ihn hörte, wie würde er reagieren?
    Die Madeleine steuerte einen abgelegenen Teil des Hafens an und ging an einem leeren Pier vor Anker. Gulf und Carmichael verabschiedeten sich von Fouchet; der kleine Kapitän schien erleichtert zu sein, daß sie endlich den Kahn verließen, und niemand von der Besatzung sah ihnen nach, als sie über die leicht schwankende Landungsbrücke an Land gingen. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt; Laternen beschienen grauen Beton, dunkle Schuppen, trübes Hafenwasser. Eine schwarze Katze huschte über den Kai und verschwand hinter rostigen Fässern.
    Automotoren heulten.
    Scheinwerfer stachen durch die Dämmerung.
    Und aus den Schatten tauchten zwei Wagen auf: Eine schwere Limousine – ein Mercedes aus den brasilianischen Werken von Daimler-Benz – und ein silberner südafrikanischer Porsche.
    Gulf blieb abrupt stehen. Einen Moment lang glaubte er, hinter den Windschutzscheiben blondes Haar zu sehen, kalte Raubtieraugen und die schwarzen Uniformen der ODESSA. Die Gesichter blauäugiger arischer Schlachter, mit Fleischerhaken und Maschinenpistolen in den Händen und dem Totenkopfzeichen am Kragenspiegel.
    »Es sind unsere Leute«, sagte Carmichael und klopfte ihm leicht auf die Schulter. »Auch die Firma fährt deutsche Wagen. Kein Grund zur Sorge.«
    Die Autos hielten. Eine Frau stieg aus dem Mercedes, bog um den Kühler mit dem silbernen Stern und kam langsam auf sie zu. Ihr Haar war weiß wie das einer Greisin, aber es mußte gebleicht sein, denn ihr Gesicht war jung und faltenlos. Sie war einen Kopf kleiner als Gulf, und als sie prüfend zu ihm aufblickte, bemerkte er, daß ihre Brauen und Wimpern ebenfalls weiß waren.
    Sie nickte Carmichael zu, wie man einem guten, alten Bekannten zunickt, aber sie sah ihn nicht an. Ihre Augen blieben auf Gulf gerichtet, und ihre Augen waren rotbraun.
    Rotbraun, dachte er, für einen Moment seltsam berührt. Augen wie Elizabeth.
    »Mr. Gulf?« sagte sie. »Ich habe den Auftrag, Sie sicher nach Washington zu bringen.« Sie drehte sich zum Wagen um; der Fahrer hatte das Seitenfenster nach unten gekurbelt und händigte ihr einen braunen, mittelgroßen Briefumschlag aus. Sie reichte ihn an Gulf weiter. »Das Flugzeug startet in zwei Stunden. Eine PanAm-Linienmaschine. Sie reisen als der britische Geschäftsmann Steven Coolidge; Coolidge ist Generalvertreter von IBM Großbritannien. Grund der Reise ist seine Teilnahme an einer Vertreterkonferenz in New York.

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