Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Fall, dass King sich irgendwie täuschen sollte, was diese Studenten anging. Er hat ihm erzählt, dass Kyle Caldwell ein Jahr zuvor von einer Ladenbesitzerin in Jackson des Diebstahls bezichtigt worden war, auch wenn sie die Anzeigedann später wieder zurückgezogen hat, weil seine Eltern die Bestohlene mit Geld beschwichtigten.«
Maggie nickte. Das alles wusste sie bereits, da sie kurz nach Jacob Stewarts Tod ein Gespräch ihrer Mom mit Jodie Maus mit angehört hatte. Sie mochte in jenen Tagen zwar nicht geredet haben, aber sie hatte zugehört und jedes Fitzelchen an Information aufgeschnappt, das durchs Haus flog – jeden Streit, jede Konfrontation ihrer Eltern, jeden Weinkrampf ihre Mutter, auch wenn sie alles erst später richtig begreifen konnte.
»Der Chief konnte dem Sheriff noch etwas anderes mitteilen, etwas, von dem deine Mom sicher nie erfahren hat.«
Carver hielt inne und fragte sich, wie viel er diesem Mädchen erzählen sollte. »Du kennst doch bestimmt die zweistöckigen Mietshäuser am Ende der Preston Avenue, die so knallbunt angestrichen sind?«
Maggie nickte wortlos.
»Und kennst du auch das rosarote?«
Maggie nickte noch einmal. »Sie meinen das ›Bordell‹.«
»Ja.« Carver lächelte. »Ich wusste gar nicht, dass ihr Teenager diese Bezeichnung auch kennt.« In den letzten fünfzehn Jahren war das Haus stets an Wohngemeinschaften von Studentinnen vermietet worden, weshalb es von den Polizisten der Stadt bloß »Bordell«, »Freudenhaus« oder auch »Rotlichtbezirk« genannt wurde.
»Vor zehn Jahren bin ich wegen eines Notrufs dorthin gefahren.« Wieder hielt Carver inne und versuchte, seine Worte abzuwägen. Der Vorfall, an den er dachte, war zwar vertraulich, hatte aber keine Ermittlungen nach sich gezogen. Er war schon fast ein Jahrzehnt her, und ein paar kleine Enthüllungen konnten keinen Schaden mehr anrichten. Die Szenen, die ihm jetzt durch den Kopf gingen, waren allerdings nicht jugendfrei, und Carver fiel es oft schwer, einzuschätzen, wie viele Informationen eine Neuntklässlerin verkraften konnte. Er war so sehr an die abgestumpftesten Teenager gewöhnt,dass er nicht wusste, welchen Grad an Unschuld ein Mädchen wie Maggie Greene sich bewahrt haben mochte.
»Am besten zeige ich dir mal etwas.«
Carver stand auf und ging an seinen Aktenschrank. »Als du vor kurzem bei mir warst, gab Mrs Murdock dir ein Blatt Papier. Nun, dieses hier solltest du auch lesen.« Er blätterte einige Ordner durch und zog schließlich ein weißes Blatt hervor, das an den Ecken bereits ganz abgestoßen war. »Das hier hebe ich schon seit Jahren auf. Nur für die Akten.«
Er legte es vor Maggie auf den Tisch, und als sie den Blick senkte, sah sie die Kopie eines handgeschriebenen Briefs vor sich – drei Absätze und eine Unterschrift, die sie nicht kannte.
»Wer ist Lauren Cross?«, fragte sie.
»Sie war Jacob Stewarts Freundin.«
Maggie erwiderte nichts, sondern las den Brief, und als sie begriff, was darin stand, wurde sie rot. Noch mehr Enthüllungen, noch mehr Geheimnisse, noch mehr Schatten aus der Welt der Erwachsenen.
»Ich glaube, den solltest du deiner Mom zeigen«, sagte Carver. »Aber niemandem sonst, okay?«
»Ja«, willigte Maggie ein. Niemandem sonst.
»Versprichst du, ihn mir zurückzubringen?«
»Ja.« Sie schob den Brief, ohne ihn zu falten, in die Seitentasche ihres Ordners. Heute Abend würde sie ihre Mutter sehen.
Carver holte tief Luft. »Du willst vermutlich nicht mehr zurück in deinen Geometriekurs …«
Nein,
dachte Maggie.
Bitte nicht.
»Ich habe nichts dagegen, wenn du hierbleibst und schon mal anfängst, deine Hausaufgaben zu machen. Und ich könnte doch zu Dairy Queen fahren und dir einen Blizzard-Eisbecher mitbringen.«
»Danke.« Maggie lächelte. »Aber kann ich lieber einen Oreo haben?«
21
Als Emma am Freitagnachmittag ihre letzten Büroarbeiten der Woche erledigte, machte sie zwischendurch eine Pause, um Maggie eine E-Mail zu schicken:
Ich komme gegen sechs Uhr in Jackson an. Sarah macht ein Abendessen für uns alle, sei also bitte um halb sieben mit Kate dort.
Sie sah auf die Uhr: halb zwei. Wenn sie es bis zwei auf den Highway 66 schaffte, würde sie vielleicht der Rushhour des Freitagnachmittags entgehen. Jahrelange Erfahrung mit der Fahrt von Washington nach Jackson hatte sie gelehrt, die Stadt spätestens um halb drei zu verlassen, denn sonst könnte sie gleich bis nach dem Abendessen warten. Sogar so früh am Tag würde der Verkehr
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