Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
von Fairfax bis Manasses nur im Schneckentempo vorwärtskommen.
Emma stand auf und ging in die Toilette neben ihrem Büro. Sie sah in den Spiegel und drehte das Gesicht nach rechts, sodass das grelle Neonlicht auf den grünlich blauvioletten Fleck auf ihrer linken Wange fiel. Emma griff zu dem Make-up-Pinsel, der auf der Ablage lag, tupfte ihn zum dritten Mal an diesem Tag in eine Puderdose und bedeckte ihre Wange mit einer Schicht hautfarbener Grundierung, genauso wie sie es die Heimbewohnerinnen seit Jahren machen sah.
Jetzt passe ich hier richtig her
, dachte sie, und war es so nicht immer im gemeinnützigen Sektor? Die Leiter und ehrenamtlichen Helfer brauchten genauso viel Fürsorge wie ihre Klienten; sie übten den Job aufgrund eigener Narben aus, auf der Suche nach gemeinsamer Heilung.
Emma musterte ihr gepudertes Gesicht und hoffte, dass sie Maggie nicht erschrecken würde. Maggie hatte ihre Mutter früher schon mit blauen Flecken gesehen – an den Knien und in der rechten Handfläche, als der Fremde sie zu Boden gestoßen hatte, oder an den Unterarmen, wenn es im Karate-Unterricht richtig zur Sache ging. Aber Emma war noch nie ins Gesicht geschlagen worden. Sie entblößte die Zähne vorm Spiegel und zog mit Daumen und Zeigefinger den falschen Schneidezahn heraus, der an einem rosa Plastikabguss ihres Gaumens hing. »Das Beste, was wir so kurzfristig hinkriegen können«, hatte ihr Zahnarzt am Morgen gesagt und ihr ein Modell des dreiteiligen Stiftzahns zum Hineinschrauben gezeigt, den sie irgendwann bekommen würde. Das Teil aus Plastik und Draht, das Emma jetzt in der Hand hielt, erinnerte sie an Maggies Zahnspange vor einem Jahr, und einen Augenblick lang dachte sie, dass sie es ihrer Tochter als Kuriosität zeigen sollte. Aber als sie wieder in den Spiegel schaute und die Lücke in ihrem lächelnden Mund sah, ähnelte sie einem fratzenhaften Wasserspeier. Lieber gar nicht erwähnen, dachte sie und drückte das Plastik wieder an ihren Gaumen.
Emma ging an ihren Schreibtisch zurück, fuhr den Computer herunter und nahm den Stapel Unterlagen des Förderantrags zur Hand, mit dem sie wochenlang gekämpft hatte. Dann griff sie nach ihrem Mantel und der Reisetasche, die auf dem Sofa lagen, und eilte zur Tür.
»Ruth«, sagte sie, als sie durchs Büro ihrer Assistentin ging, »sorgen Sie bitte dafür, dass das hier heute noch mit FedEx rausgeht. Die Online-Unterlagen habe ich bereits eingereicht.«
»In Ordnung«, erwiderte Ruth lächelnd. »Eine schöne Zeit mit Maggie.«
Emma hatte ihr den Zweck ihrer Reise nicht genannt – nur Junot und Rob wussten davon, dass Sandra wieder aufgetaucht war. Für den Rest der Welt ging es um ein weiteresder Mutter-Tochter-Treffen, die viel zu selten stattfanden in diesem arbeitsreichen Herbst.
Als sie aus dem Haus trat, sah Emma kurz noch einmal Carlos Cortez auf dem Gehweg liegen, mit Junots Knie im Rücken. Carlos saß jetzt im Gefängnis. Ein mitleidloser Richter, der schon mit vielen Fällen häuslicher Gewalt befasst gewesen war, hatte eine beträchtliche Kaution angesetzt, die aufzubringen für Carlos unmöglich war. Im Laufe der nächsten Wochen würde Maria lernen müssen, sich selbst und Christian ohne Carlos’ Einkommen zu versorgen. Aber sie schien entschlossen dazu, nicht zuletzt durch den Anblick von Emmas geschwollener Wange so schockiert, dass sie endlich einen ernsthaften Anlauf nehmen wollte. Sie hatte sich immer als Carlos’ einziges Opfer gesehen und gemeint, seine Wut resultierte aus ihren eigenen Fehlern. Doch jetzt nach seinen Drohungen gegen Christian und der Brutalität gegen Emma hatte sie sich geschworen, die Scheidung einzureichen, ihre Putzjobs zu verdoppeln und bei der Suche nach einer neuen Wohnung die Hilfe ihrer Schwester anzunehmen. Emma hoffte, dass Maria all das wirklich tun würde und ihr Entschluss auch Bestand hatte, wenn Carlos wieder entlassen war. »Sehen Sie mein Gesicht an«, hatte sie zu Maria gesagt, kurz bevor Christina kam, um ihre Schwester abzuholen. »Wenn Sie Carlos wieder nach Hause kommen lassen, wird er genau das Ihrem Sohn antun. Das dürfen Sie niemals zulassen.«
Als Emma jetzt die Constitution Avenue hinunterfuhr, an der National Gallery links und den National Archives rechts vorbei, hatte sie das Gefühl, dass ihr Leben in Washington in der richtigen Richtung lief. Maria hatte einen entscheidenden Schritt getan, der Förderantrag war fertig und würde wahrscheinlich auch bewilligt werden, und Junot
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