Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
hatte angekündigt, sie am Sonntagabend um sieben mit einem Abendessen in ihrer Wohnung zu erwarten.
Vor einer Ampel am Washington Monument, an der siehalten musste, sah Emma, dass der Himmel voller riesiger Drachen, langschwänziger Fische und geometrischer Wunderwerke war, die sich kräuselnd und kreiselnd zum alljährlichen Drachen-Festival versammelt hatten. Der Wind hatte längst alle Anzeichen der Schwüle vertrieben, die sich an warmen Tagen über die Stadt legte, und als Emma den Potomac überquerte und die Wolkenkratzer hinter ihr immer kleiner wurden, dachte sie, was für ein Glück sie doch hatte, in dieser Stadt zu wohnen mit einem gut aussehenden Polizisten als Freund, der nur zu ihrem Vergnügen Tickets für ›Billy Elliot‹ kaufte, obwohl er selbst Musicals nicht mochte.
Als sie an den Ausfahrten nach Falls Church, Fairfax und dann Vienna vorbeifuhr, stiegen Erinnerungen in ihr hoch. Die Fahrt zurück nach Jackson war immer eine Reise in die Vergangenheit, eine Zeitmaschine, die fortwährend auf einen einzigen Frühling und Sommer eingestellt war. Und als sie den offenen Highway östlich von Manasses erreichte und die Vorstädte sich langsam in einer hügeligen, bewaldeten Landschaft verloren, war sie wieder zurück im Haus am Wade’s Creek und dachte über den Ehemann nach, den sie verlassen hatte.
Sie fragte sich oft, ob Rob und sie zusammengeblieben wären, wenn Jacob Stewarts Tod nicht gewesen wäre. Es hatte schon seit Jahren Probleme in ihrer Ehe gegeben, auch wenn sie beide um Maggies willen vielleicht tapfer immer weitergemacht hätten. Doch die Belastungen, die Jacobs Tod nach sich zog, hatten die Ehe dermaßen überstrapaziert, dass sie schließlich zerbrach.
Anfangs waren es die Streitereien über Maggies Therapie gewesen, auf die Rob bestand, genauso wie er nach Maggies Geburt auf die psychologische Beratung für Emma bestanden hatte. Rob hatte im jahrelangen Umgang mit seiner Mutter und seinen Schwestern die Überzeugung gewonnen, dass Frauen sich ständig mit anderen über ihre Gefühle austauschen mussten. Schweigsame Frauen oder einzelgängerischeFrauen, so etwas gab es für ihn nicht. Zurückhaltung und Einsamkeit waren Eigenschaften grübelnder Männer. Frauen sollten reden.
»Nicht alle Menschen, die schweigen, sind depressiv«, hatte Emma nach Maggies Geburt gesagt, als Rob sie zu einer Therapie wegen postnataler Depression drängte.
»Aber mit dem Stillen hast du Probleme«, hatte er erwidert.
Emma hasste es, wenn Männer über das Stillen so redeten, als würde die Lektüre einiger Kapitel eines Schwangerschaftsratgebers sie zu Experten machen. Ja, ihre Brustwarzen waren rissig und hatten geblutet, sodass Maggie manchmal wie ein kleiner Vampir aussah, wenn ihr nach dem Stillen ein paar Tropfen Blut übers Kinn liefen. Und wenn Emma nachts auf das Fläschchen zurückgriff, weil sie wusste, dass eine gut gesättigte Maggie länger schlief, hatte Rob sie vor »Saugverwirrung« gewarnt und noch andere pompöse, aus Büchern gelernte Begriffe benutzt, während Emma sich auf die schmerzreiche Erfahrung ihres Körpers verließ.
Diese ersten Risse in Emmas Ehe waren entstanden, lange bevor sie Jacob Stewart überhaupt kennenlernte. Jedes Mal, wenn sie ein Fläschchen warm machte, hatte Rob sie mit kritischem Blick beobachtet, und es wäre ihr am liebsten gewesen, wenn er einfach verschwunden wäre. Doch das sagte sie niemals laut. Sie begann sich nach den Stunden zu sehnen, in denen er im Büro war, und zuckte zusammen, wenn sie sein Auto die Auffahrt heraufkommen hörte, weil sie sein Urteil darüber schon kannte, dass sie den ganzen Tag im Bademantel herumgelaufen war, die schmutzige Wäsche aus dem Wäschekorb herausquoll und verräterische Fläschchen in der Küchenspüle standen.
Letztlich hatte Emma sich auf einige Monate postnataler Therapie eingelassen, nur um Robs gutem Zureden ein Ende zu machen, die Sitzungen aber als nichts weiter denn teure Plauderstunden abgetan. Weshalb Emma, als Rob auf eineTherapie für Maggie bestand, denselben inneren Widerwillen empfunden hatte, dieselbe Wut, dass er ihre Tochter zwang, sich einem Fremden zu öffnen, wenn sie doch schweigen wollte.
»Lass das Mädchen in Ruhe«, hätte Emma gern gesagt. »Lass uns beide in Ruhe.«
Dennoch hatte sie Maggie hingehen lassen, da sie spürte, dass sie ihre Autorität als Elternteil in dem Moment verloren hatte, als sie Jacob erschlug. Rob war der verantwortungsbewusste Erwachsene in ihrem
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