Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
wenigen Momenten wieder sinken.
Doch es war lange genug gewesen für Maggie, um zu merken, dass es sich falsch anfühlte. Sie fürchtete sich jetzt nicht mehr vor Mrs Murdock, aber sie respektierte sie auch nicht. Sie sah in der Art, wie die Lehrerin mit Kreide etwas an die Tafel schrieb, nichts als die Geste einer Heuchlerin, und sie konnte nicht fünfzig Minuten lang dasitzen und sich Erläuterungen über Parallelogramme anhören, als ob alles okay wäre. Wenn Mrs Murdock ihr von der Vergangenheit erzählte und den beiden College-Studenten, die für sie so lange nur als verschwommene Schatten existiert hatten, Gesichter, Farbe und Gestalt gab, konnte Maggie ihr zuhören. Aber sie konnte nicht so tun, als wäre es ganz normal, dass Mrs Murdock in Jackson war.
Als es zur siebten Stunde klingelte, blieb Maggie auf dem Korridor stehen, weit genug von Mrs Murdocks Tür weg, dass man sie nicht sehen konnte. Sie wollte sich eben umdrehen und gehen, als eine Stimme hinter ihr sie aufhielt.
»Maggie Greene, ich möchte mit dir reden.«
Officer Petty ragte in seiner blauen Uniform vor ihr auf und gab Maggie mit einem Wink zu verstehen, dass sie ihm folgen sollte. Sie gehorchte und schwieg, während sie gemeinsam an offenen Klassenzimmertüren vorbeigingen, Treppen hinunterliefen und durch einen weiteren Korridor, bis sie schließlich »Carvers Klassenzimmer« erreichten. Heute roch der Raum nach frittiertem Hähnchen. Oder waren es Pommes frites oder Fischstäbchen? Maggie konnte die feinen Unterschiede des Fettgeruchs nicht auseinanderhalten.
Carver setzte sich an den Tisch neben Maggie. Er hatte viel über dieses Mädchen nachgedacht, seit er sie im Wald gefunden hatte. Dem Direktor hatte er noch nichts von Mrs Murdocks wahrer Identität erzählt – er wollte erst einmal ein paar Tage abwarten, um zu sehen, was sich daraus entwickelte. Er hatte ein wachsames Auge auf Maggie gehabt in der Zwischenzeit. Doch jetzt, als das Mädchen in ihrer üblichen defensiven Haltung mit vor der Brust verschränkten Armen und in den Stuhl hingelümmelt dasaß, fragte er sich, was Mrs Murdock alias Sandra McCluskey wohl auf das gelbe Blatt Papier geschrieben haben mochte, das dieses zähe Mädchen in Tränen ausbrechen ließ.
»Ich habe dich vor Mrs Murdocks Klassenzimmer stehen sehen. Und es wirkte nicht gerade so, als wärst du erpicht darauf gewesen, hineinzugehen.«
Maggie erwiderte nichts.
»Du weißt vielleicht nicht«, fuhr Carver fort, »dass ich Polizist in Jackson war, als damals diese ganze Sache mit deiner Mutter passierte. Es war wirklich furchtbar, all die Schläge unter die Gürtellinie, die sie einstecken musste.«
Maggie lümmelte sich noch etwas tiefer in den Stuhl.Dann wusste Officer Petty also von der verrückten Professorin, der Joints rauchenden Femi-Nazi, der fanatischen Tierschutz-Aktivistin, die Affen liebte, aber Männer hasste. Mit fünf war Maggie zu jung gewesen, um den Wirbelsturm der Gerüchte in jenem ersten grauenhaften Sommer wahrzunehmen. Aber die Überbleibsel waren noch jahrelang fester Bestandteil des Stadtklatsches in Jackson gewesen und wurden oft wiederholt auf Webseiten, in Tischgesprächen beim Abendessen und in Zeitungsartikeln, die lang zurückliegende Ereignisse wieder aufgriffen. In einer Stadt mit achttausend Einwohnern war Emma berühmt-berüchtigt, eine Art Lizzie Borden des neuen Jahrtausends, die einen Baseballschläger schwang statt einer Axt. Ihr Leben bot bessere Unterhaltung als das örtliche Autokino – mit echter Gewalt, echten Bullen und einer weiblichen Hauptperson, deren Haar zu rot und deren Augen zu grün waren, als dass sie gänzlich unschuldig sein konnte. Maggie verstand, warum ihre Mutter wegziehen, das Goldfischglas hier verlassen und einen Ort finden musste, an dem sie anonym war. Und wäre sie nicht an Maggie gebunden gewesen, wäre sie wahrscheinlich noch weiter weg gegangen – an die Westküste oder nach Europa, irgendwohin, wo Jackson so unbedeutend war, dass niemand es kannte.
»Du musst wissen«, fuhr Carver fort, »dass der Sheriff die Geschichte deiner Mutter vom ersten Tag an geglaubt hat. Polizisten wissen meist ganz genau, ob jemand lügt, und deine Mom kam als eine aufrichtige Frau mit gutem Herzen rüber. Ich weiß das, weil ich mit einigen Deputys befreundet war, und unser Polizeichef hier in Jackson, Chief Chris Miller, hat gleich am Tag nach Jacob Stewarts Tod mit Sheriff King geredet, um ihm Hintergrundinformationen zu geben für den
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