Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Hintern zielte, sie aber am nackten Oberschenkel mit einer Wucht traf, die nicht nur schmerzhaft, sondern vor allem demütigend war. Maggie reagierte mit heulendem Geschrei, während Emma ins Badezimmer rannte und nach dem Teppichreiniger suchte. Und als ihre Mutter schließlich mit einem gelben Schwamm auf dem Teppich herumschrubbte und die bunten Farben zu einem großen Schmierfleck zusammenflossen, heulte auch sie.
Als Rob zehn Minuten später nach Hause kam, saßen seine Frau und seine Tochter jede in ihrem Zimmer und weinten.
»Ich kann die Wand morgen gleich streichen«, versicherte er seiner Frau. »Die braucht sowieso mal wieder einen neuen Anstrich.«
»Aber den Teppich kannst du nicht neu streichen«, sagte Emma. »Der Fleck geht nicht mehr raus. Und unsere Gäste kommen in einer Viertelstunde.«
»Unsere Freunde haben auch Kinder – die kennen so was. Im Grunde ist es doch eine lustige Geschichte.«
Seine Nonchalance hatte Emma erst recht auf die Palme gebracht. Rob hatte eine Art an sich, so zu tun, als wäreimmer sie das Problem. Sie machte ein Aufhebens um nichts und wieder nichts. »Du hast gesagt, du kommst heute früher nach Hause, um mir zu helfen. Du wolltest schon vor zwei Stunden hier sein. Wenn du hier gewesen wärst, hättest du auf Maggie aufpassen können.«
»Ich bin in der Arbeit von lauter Last-Minute-Problemen aufgehalten worden – alle scheinen immer um fünf Uhr die Krise zu kriegen.«
»Du hast nicht mal angerufen und Bescheid gesagt, dass du dich verspätest, und ich habe es dreimal auf deinem Handy probiert. Du weißt, dass das jede Woche vorkommt – ich stecke hier fest mit Maggie und muss mich um alles kümmern, während du nirgends aufzutreiben bist … Zieh dich um … die Gäste kommen gleich. Und zieh bloß nicht dieses grüne Hemd an – das ist scheußlich.«
Als die ersten Gäste in die Auffahrt fuhren, schluchzte Maggie immer noch in ihrem Zimmer. Ihre Mutter kam herein und flüsterte: »Herrgott, sei still.« Hinter ihr sah Maggie ihren Dad, der einen Finger an den Mund legte und ihr zuzwinkerte, und so schluckte sie ihre Tränen herunter.
»Wasch dir das Gesicht, dann darf du herunterkommen«, hatte Emma hinzugefügt. »Die Petersons bringen ihre Mädchen mit.«
Ihre Mom hatte recht gehabt, was den Teppich betraf. Nach der Dinnerparty hatte Rob ihn noch mal zwanzig Minuten mit einem Bleichmittel geschrubbt, doch der Schaden war nicht mehr zu beheben. Und von dem Tag an hatte der graue Geist dieses Nachmittags sie aus den Teppichfasern angestarrt, wann immer sie über den Flur lief, eine stete Erinnerung an die Wut ihrer Mutter und an ihre eigene Schuld.
»All diese kleinen Ereignisse«, erklärte Maggie Dr. Riley, »der Dinosaurier, das Eichhörnchen und der Schlag, all das ließ mich glauben, dass meine Mutter ein schlechter Mensch ist – dass sie Dingen wehtut und Menschen wehtut.«
»Bringst du deiner Mutter jetzt andere Gefühle entgegen?«, fragte der Arzt.
»Wollen Sie wissen, ob ich meine Mom liebe?«
»Nein, das habe ich nicht gefragt.«
Maggie sah ihr linkes Handgelenk an, an dem ein Armband aus indigoblauen Perlen hing, das als kleiner weltlicher Rosenkranz diente. Das Armband hatte ihre Mutter ihr vor zwei Jahren geschenkt, und Maggie trug es seitdem ständig und wünschte sich immer etwas, wenn sie mit den Fingern über die Perlen fuhr.
»Es ist schwer, einen Menschen zu lieben, wenn man sich vor ihm fürchtet«, murmelte sie.
Während ihrer Grundschulzeit war das vorherrschende Gefühl, das Maggie ihrer Mutter entgegenbrachte, Scham gewesen. Scham über die Wut und die mangelnde Beherrschung ihrer Mutter. Und Scham über die Schande, die sie über die Familie gebracht hatte. Scham darüber, als Tochter der verrückten Professorin, der wahnsinnigen, Baseballschläger schwingenden Rothaarigen bekannt zu sein. Alle anderen Mütter wirkten freundlich und ruhig, backten Brownies für Schulspendenaktionen und leiteten Elternvereine, doch nach Jacobs Tod hielten diese Frauen Emma auf Armeslänge Abstand und musterten sie mit einer Mischung aus Mitleid und Angst. Und Maggie hatte ihre Furcht geteilt und sich gefragt, ob sie irgendwann auch Ziel der Wut ihrer Mutter werden würde. Die Fernsehnachrichten brachten Berichte über Mütter, die ihre Kinder getötet hatten – erstickt, ertränkt oder zu Tode geprügelt. Was würde ihre Mutter tun, wenn Maggie mal etwas richtig, richtig Schlimmes ausgefressen hatte?
Als
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