Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
sich zuzog.
Im Flur fragte die weibliche Stimme: »Was ist das für ein Zimmer?« Die Tür ging wieder auf und das kichernde Gesicht eines Mädchens spähte herein. Als die StudentinMaggie sah, verstummte sie, und sie blickten einander in die Augen. Maggie meinte, die Worte »Tut mir leid« auf den Lippen der Studentin lesen zu können, als diese die Tür leise wieder zuzog, bis nur noch ein schmaler Lichtstreifen auf Maggies Gesicht fiel.
Draußen vor dem Fenster stiegen neue Geräusche auf, und schließlich konnte Maggie die Stimme ihrer Mutter erkennen, die das Wort »unzertrennlich« sagte.
»Scheiße.« Der dicke Junge lief zur Treppe, und Maggie hörte die beiden die Stufen hinuntergehen.
Sie erwachte in dem Moment, als die Fliegengittertür sich quietschend öffnete.
Am Tag darauf knabberte Maggie zum Lunch ein bisschen an ihrem Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwich herum und aß ein paar Karottensticks, bevor sie die Arme verschränkt auf den Cafeteriatisch legte und den Kopf daraufsinken ließ. Sie musste ihrem Dad unbedingt sagen, dass er aufhören sollte, ihr diese Lunchpakete zu machen. Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwich war einfach peinlich und kindisch. Sie war doch keine acht mehr. Meistens durchweichte die Marmelade das Brot auch noch oder quoll zu beiden Seiten heraus und verschmierte die verschließbaren Plastiktüten, die ihr Dad jeden Tag recycelte, indem er sie auswusch und ein weiteres matschiges Sandwich hineinpackte. Die meisten Schüler an der Highschool kauften sich etwas zum Lunch, auch wenn das Essen schrecklich schmeckte – tiefgefrorene Pizza, abgepackte Frikadellen und labbrige Tortilla-Salate.
»Alles okay?« Kate McConnell, Maggies beste Freundin, setzte sich neben sie, vor sich ein oranges Plastiktablett mit einem Teller Fisch-Nuggets mit Pommes frites. Die anderen Schüler nannten sie »die korpulente Kate« oder, wenn sie so richtig gemein wurden, »Kate die Kuh«, wegen der Extrazentimeter Fleisch, die über ihren ganzen Körper verteilt waren. Normalerweise hatte Kate glattes braunes Haar, das ihr bisüber die Schultern fiel. Doch in letzter Zeit experimentierte sie mit Lockenwicklern, sodass sich jetzt, als sie ihren Stuhl an den Tisch heranzog, Dutzende Korkenzieherlocken um ihre Wangen ringelten.
»Schicke Frisur«, murmelte Maggie, als sie sich zu Kate umdrehte und zusah, wie diese einen ankerförmigen Fisch-Nugget in Ketchup tauchte.
Kate verdrehte die Augen. »Ja, klar.« Sie musterte Maggie einen Augenblick lang, zog dann zwei ihrer Locken links und rechts von ihrem Gesicht herunter, bis sie die Schultern berührten, und ließ sie wieder los, sodass sie hochschossen und dann auf- und abfederten. »Ich habe einen ganzen Kopf voller Springteufel und kann bloß hoffen, dass die sich beruhigen, wenn ich sie immer schön bürste … Aber egal.« Sie zuckte die Achseln. »Du siehst noch schlimmer aus als ich.«
»Danke.«
»Wieder Albträume?«, fragte Kate, und Maggie nickte.
Kate wusste alles über Maggies Träume. Ihre Freundschaft ging zurück bis in die Vorschulzeit, was Kate eine besondere Bedeutung in Maggies Welt verlieh. Maggie teilte ihr Leben ein in vor und nach »der Nacht«, und da Kate auf beide Seiten des Kalenders gehörte, v. d. N. und n. d. N., war sie die Freundin, der Maggie am meisten vertraute. Kate wusste zum Beispiel von den Sitzungen bei Dr. Riley. Es war sogar Kate gewesen, die als Erste feststellte, dass der Arzt richtig gut aussah. Kate nannte ihn bloß Maggies »Beau«. Jede Sitzung war ein Date.
»Hast du Dr. Beau von deinen Träumen erzählt?«
»Klar.« Maggie nickte.
»Was hat er gesagt?«
»Er hat gesagt, dass ich nett sein soll zu Mrs Murdock.«
Kate schob drei Pommes frites auf einmal in den Mund. »Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?«
Maggie seufzte. »Er glaubt, dass ich Stress habe wegen der Schule.«
»Oh, wow.« Kate verdrehte noch einmal die Augen. »Hast du ihm gesagt, was für ein Genie er ist? Willst du diese Oreos da nicht essen?«
Maggie schob Kate ein paar in Frischhaltefolie gewickelte gefüllte Doppelkekse zu. Kate bekam jeden Tag irgendetwas von Maggies Lunch ab – Apfelschnitze, die schon leicht braun geworden waren, eine Banane mit zu vielen dunklen Flecken oder auch eine Nektarine mit einer weichen Stelle, von der Saft in Maggies Lunchpaket getröpfelt war. Maggie hatte Hunderte Gründe, ihr Essen nicht anzurühren, doch Kate schmeckte einfach alles. Noch ein paar Jahre, dachte
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