Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
riesigen weißen Zelt ›Amazing Grace‹ gesungen und gedacht, wie seltsam es doch war, dass die gestreiften Zirkuszelte ihrer Kindheit durch dieses sakrale Riesenzelt ersetzt worden waren, als ihr plötzlich die Stimme versagte und ihr zu ihrer eigenen Überraschung ein paar Tränen über die Wangen liefen. Eine Frau links neben ihr nahm ihre Hand und drückte sie, und in diesem Augenblick, ausgelöst durch die erste liebevolle Geste,die ihr ein fremder Mensch erwiesen hatte, erkannte sie, dass »Grace« der Name ihres wahren inneren Wesens war. »Sandy« war zu oberflächlich, ein unpassendes Adjektiv, ein Silbenpaar, das nicht für ein Herz stehen konnte, das sich unter Tränen dem christlichen Glauben geöffnet hatte. Die Änderung ihres Namens konnte der erste Schritt vorwärts sein, um auch ihr Leben zu ändern.
Vielleicht würde Maggie diesen Wunsch nach Veränderung verstehen, den dringlichen Wunsch, das eigene Leben auf eine höhere Ebene zu heben, es aufregender zu gestalten, ein beliebter und geliebter Mensch zu werden. Soweit Grace es beurteilen konnte, war auch Maggie ein unscheinbares Mädchen, ein Mädchen, das weiter nicht aufgefallen wäre, wenn es nicht durch diese eine traumatische Nacht eine traurige Berühmtheit erlangt hätte. Maggie war nicht mit dem glänzend roten Haar ihrer Mutter gesegnet oder mit den grüblerischen Augen ihres Vaters. Sie schien sehr klug zu sein, würde es aber vermutlich dennoch nicht unter die ersten fünf ihrer Klasse schaffen. Sie war weder Bienenkönigin noch Einzelgängerin, Grace hatte sie mit ein paar Freundinnen reden sehen, doch selten mit Jungen, und wahrscheinlich zweifelte sie schon, ob sie eines Tages zu einem Schulball eingeladen werden würde.
Das war die wichtigste Frage in Graces Highschool-Zeit gewesen, und der nahende Schulball hatte ihr jedes Jahr wieder die Wochen davor vergällt. Während andere Mädchen sich ganz auf die Fragen konzentrierten, wer mit wem dorthin gehen würde, welches Kleid sie tragen und welche Schuhe dazu passen könnten, hatte Grace das Treiben jeden Frühling nur aus einsamer Ferne beobachtet. In ihrem ersten und zweiten Highschool-Jahr hatte sich keiner der älteren Jungen für sie entschieden – was sie auch nicht erwartet hatte. Doch im dritten Jahr hatte sie vor dem Ball einen ganzen Monat lang versucht, Jungen anzulächeln, hallo zu sagen, sie auf ihre Existenz aufmerksam zu machen und vor allem darauf,dass sie für jeden, der eine weibliche Begleitung brauchte, zur Verfügung stand. Sie hatte sich gefühlt, als würde sie mit einem Schild auf der Brust herumlaufen:
Bin zu allem bereit.
Manche der anderen Mädchen, die auch keinen Tanzpartner hatten, luden ihre Cousins ein oder wurden von Freunden der Familie begleitet, die ihre Eltern rekrutiert hatten. Grace dagegen verbrachte den Abend des Schulballs allein mit einem Riesenbecher Eiscreme zu Hause.
Auch im vierten Highschool-Jahr wurde es nicht besser – den ganzen Herbst und Winter über lud kein einziger Junge sie ins Kino ein oder zu einer Party oder auf eine Cola. Weshalb also hätte jemand sie zum Schulball einladen sollen? Und so dachte sie sich einfach etwas aus, um der Demütigung zu entgehen. Zwei Monate vor dem Ball erzählte sie ihrem kleinen Kreis von Freundinnen, dass die Familie ihres Onkels in North Carolina sie eingeladen habe, im Mai zusammen mit ihnen an den Strand zu fahren, und wie schade es doch sei, dass das genau auf das Wochenende des Abschlussballs falle! Diese Geschichte wiederholte sie in den nächsten Wochen regelmäßig und verhinderte so, dass irgendwer sie fragte, ob sie schon von einem Jungen eingeladen worden war. Und als das Wochenende des Schulballs da war, versteckte sie sich zu Hause und bat ihre Mom jedem, der anrief, zu sagen, dass sie weggefahren sei – nicht, dass irgendwer angerufen, ihr Fehlen bemerkt oder sich auch nur darum geschert hätte.
So hatte sie begonnen, Graces Karriere als Lügnerin – die Laufbahn, die sie schließlich an Maggie Greene binden würde. Nach diesem schmerzlich einsamen Wochenende stellte Grace fest, wie leicht es war, Lügen zu erzählen, und es machte ihr sogar Spaß.
Das Wetter an der Atlantikküste war zu wolkig gewesen, um sich zu sonnen, aber die Sanddünen bei Kitty Hawk waren voller Drachenflieger gewesen.
Grace entdeckte, dass sie ein Talent dafür hatte, Geschichten zu erfinden. Die Lügen kamen ihr leicht über die Lippen, in allen Einzelheiten, und schufen eine andere
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