Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Welt voller Freunde.Und so erzählte sie in den folgenden Monaten ganz ohne Schuldgefühle und voll Hingabe immer wieder neue Lügen, sprach von ihren Reiseplänen für den Sommer und beschrieb den Jungen, den sie bei einem Wochenend-Mathekurs kennengelernt hatte. Warum sollte sie sich treu an die Fakten halten, wenn die Realität ihr nie freundlich gesinnt war?
Maggie Greene war der erste Mensch, dem sie die Wahrheit schuldete, weil Maggies Leben das erste war, dem Graces Lügen Schaden zugefügt hatten. Bevor das Mädchen auftauchte, hatte Grace immer gedacht, ihre Lügen würden den Menschen in ihrer Umgebung helfen; schließlich nahmen sie ihnen doch das Unbehagen in ihrer, Graces, Gesellschaft, und sie mussten Grace auch nicht mehr bedauern. Ihre Geschichten machten Grace zu einer angenehmen Freundin, und sie meinte, dass ihre Freundinnen jedes Wort ihrer Geschichten glaubten, so ernst waren deren Mienen, in denen sich Neugier und Neid spiegelten. Erst Jahre später fragte sie sich, ob die Mädchen damals mit ihren Fragen nach dem Strandurlaub und dem Jungen und dem Mathekurs sich nicht insgeheim für sie geschämt hatten.
Das College hätte Graces Elend beenden sollen. College – das gelobte Land nach dem allzu langsamen Exodus aus der Highschool. Der Ort, an dem auch die mittelmäßigen Mädchen ihre Nische finden und sie mit einem Jungen teilen konnten, der ihnen den ersten, längst überfälligen Kuss geben würde. Jedenfalls hatte Grace sich das so erträumt, als sie vor dreizehn Jahren aufs Holford College ging – sie hatte sich vorgestellt, dass nun eine lange hinausgeschobene Jugend beginnen würde. Im College würde auch sie all die Freuden erleben, die die anderen Mädchen schon seit langem kannten.
Und so war es eine Enttäuschung, als sie feststellte, dass die Freundeskreise in Holford genauso exklusiv waren wie die Cliquen an ihrer Highschool. Trug sie die richtigen Kleider? Kannte sie die richtigen Leute? War sie ein Mitglied der richtigen Studentinnenvereinigung? Die Antworten lautetenNein, Nein und
Soll das ein Witz sein?.
Es gelang Grace im ersten College-Jahr, ein paar wenige Kontakte zu knüpfen. Hin und wieder ging sie mit einem jungen Mann Kaffeetrinken und gelegentlich sogar ins Kino. Außerdem trat sie dem Outdoor-Club bei, was bedeutete, dass sie mit einem Studenten zusammen drei Stunden lang in einem Kanu saß, und sie redete sich ein, dass auch das als ein Date galt.
Grace hätte sich mit diesen gelegentlichen Verabredungen zufriedengegeben, hätte in Holford nicht jedes Jahr im April der Frühlingsball stattgefunden. Ihre Mutter rief Grace Wochen vor dem Ball fast täglich an, um zu fragen, ob Grace hingehen werde. Mrs Higgins habe einen Neffen, der wirklich ein ganz lieber Kerl sei (was so viel hieß wie hässlich, aber nett). Ob Grace den nicht kennenlernen wolle?
Ihre Mutter schien schwer enttäuscht zu sein, dass Grace nicht zum Ball ging, so als läge darin die größte Bewährungsprobe für die erfolgreiche Zukunft ihrer Tochter. Und deshalb beschloss Grace im darauffolgenden Jahr, wieder auf ihre bewährte Methode zurückzugreifen. Sie erzählte ihrer Mutter, dass sie diesmal auf den Frühlingsball gehen werde, und zwar mit einem Studenten namens Tom aus ihrem Geschichtsseminar. Nein, er sei nicht ihr Freund, aber sehr nett, und sie werde sicher viel Spaß mit ihm haben. Ein paar Tage später erzählte Grace ihrer Mutter dann von dem großartigen Restaurant, das Tom fürs Abendessen ausgesucht hatte, und auch von der Party, auf die sie nach dem Ball gegangen waren, und dass Tom der perfekte Gentleman gewesen sei und sie wohlbehalten um zwei Uhr nachts an ihrem Wohnheim abgesetzt habe.
Im dritten College-Jahr wurden die Lügen noch schlimmer. Routiniert erzählte Grace ihrer Mom zwei Wochen vor dem Frühlingsball, dass sie einen Begleiter habe, nur um deren alljährliche Sorge im Keim zu ersticken. Doch das erwies sich als Fehler, denn ihre Mutter bestand darauf, mit ihr nach Charlottesville zu fahren, um ein neues Kleid zu kaufen, undsie gab zweihundert Dollar aus – ein Vermögen für eine Familie, die vom Eisenwarenhandel lebte. Während des Einkaufs erzählte Grace weitere Geschichten über ihren erfundenen Begleiter: Ian Campbell war ein großer junger Mann mit rotblondem Haar, Sommersprossen und Sinn für Humor, der im Hauptfach Geschichte studierte. Ihre Mom wollte nach Holford kommen und Ian kennenlernen, da sie doch nur eine Autostunde vom College
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