Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
Vom Netzwerk:
wenn sie an staatlichen Schulen unterrichtete. Sie hatte gehofft, dass die Ehe eine Lösung wäre   – dass ein Ehemann mit festem Einkommen sie von der Angst vor der finanziellen Pleite befreien könnte, die wie ein Damoklesschwert über ihrer Kindheit gehangen hatte. Doch als ihr zehn Jahre alter Ford Taunus jetzt ächzend den Weg auf den Humpback Mountain hinauffuhr, schossen ihr wie in einer grotesken Pantomime Szenen ihrer Ehe durch den Kopf.
    Sie musste Maggie von dem beschämenden Verlauf ihres Liebeslebens erzählen, wenn sie wollte, dass das Mädchen verstand, warum sie eines Nachts zusammen mit zwei widerwärtigen College-Studenten bei ihr zu Hause aufgetaucht war. Alle Schwierigkeiten in Graces Leben hatten sich um Geld und Männer gedreht   – oder Moneten und Männer, wie sie um der Alliteration willen immer sagte, um dieser fatalen Alliteration willen, die sich jetzt unablässig in ihren Gedanken wiederholte, während sie den gewundenen Weg, eine Kurve nach der anderen, durch das Blue-Ridge-Gebirge fuhr:
Moneten und Männer, Moneten und Männer.
Und jetzt fügte ihr Hirn sogar noch eine weitere Alliteration hinzu:
Maggie und Moneten und Männer.
Was war ihr Leben anderes als eine Abfolge abschreckender Beispiele?

7
    Oben auf dem Humpback Mountain waren die Bäume, die am dichtesten an der Straße standen, so stark umrankt von Kudzu, dass weder Stamm noch Äste zu sehen und sie unter dem wuchernden Blättergewirr der Kletterpflanze zum Ersticken verurteilt waren   – was Grace vorkam wie ein allgegenwärtiges Schicksal: dass ein Leben ausgelöscht wurde von einer rücksichtslosen Gruppe anderer, die alles Sonnenlicht stahl. Vielleicht sollte sie Maggie von den Bäumen erzählen, oder vielleicht hatte Maggie diese voluminösen smaragdgrünen Riesen sogar schon gesehen und wusste, dass im Schatten dieser Roben aus grüner Spitze Leben starb.
    Grace brauchte eine Metapher, um sich die Leiden der eigenen Jugend vom Leib zu halten, denn wie sollte sie Maggie sonst erklären, was es für ein Gefühl gewesen war, das Mädchen zu sein, das in der Highschool nie einen Freund hatte, das Mädchen, das nie von einem Jungen zu einem Schulball eingeladen wurde oder zu einem Abendessen oder zu einem Picknick? Nicht, weil sie hässlich war. Nein   – in all den qualvollen Jahren ihrer Highschool-Zeit kam ihr das Wort »hässlich« nie in den Sinn, wenn sie in den Spiegel sah und ihre dünnen aschblonden Haare, ihre verhalten blickenden Augen und ihr schmales Gesicht mit dem leicht kantigen Kinn betrachtete. Sie war weder unattraktiv noch schön, weder atemberaubend noch abstoßend. Sie war ein durch und durch mittelmäßiges Mädchen   – die nüchterne Norm. Der einzige körperliche Vorzug, auf den sie stolz war, war ihre makellose Haut, die gegen Akne anscheinend immun war undauch keine Sommersprossen oder Muttermale aufwies. Aber vielleicht wäre sie mit einem Makel in der Highschool eher aufgefallen   – ein Leberfleck am Mundwinkel, eine Narbe, die nach einer Erklärung verlangte, das hätte vielleicht einen Jungen veranlasst, einen zweiten Blick auf sie zu werfen. So wie es war, konnte ihr Gesicht jedoch in fünf Sekunden abgeschätzt und verworfen werden, und sie hatte nie den Mut besessen, mit künstlichen Hilfsmitteln Aufmerksamkeit zu erregen   – mit grellem Make-up, einem Tattoo oder violetten Strähnen im Haar. Und um es noch schlimmer zu machen, war ihre Persönlichkeit genauso durchschnittlich wie ihr Gesicht. Sie war weder übermäßig intelligent noch besonders dumm   – ein bescheidenes Talent in einer Reihe von Flötenspielern, eine mäßige Läuferin beim Querfeldeinrennen. Sie war das verlässliche Mitglied der Gruppe, das Mädchen, an dessen Namen die Leute sich nie erinnern konnten.
    Sandra McCluskey   – so hatte sie als Kind geheißen   – war der Name der Mutter und der Großmutter ihres Vaters, ein Name aus der Arbeiterklasse, ein gewöhnlicher Name, dessen übliche Abkürzung Sandy eher für einen Golden Retriever zu passen schien als für ein junges Mädchen, das verzweifelt wünschte, von jemand Besonderem bemerkt zu werden. Grace war ihr zweiter Vorname, den sie selten benutzt hatte, bis sie sich zwei Jahre nach dem College zum ersten Mal dem Christentum zuwandte, als einem Mittel gegen ihre Einsamkeit und weil sie meinte, Jesus könnte womöglich der einzige liebevolle Mann in ihrem Leben sein. Sie hatte zusammen mit ein paar Hundert Südstaatenbaptisten in einem

Weitere Kostenlose Bücher