Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
entfernt wohnte. Aber Grace lehnte ab. Junge Männer, die zum ersten Mal mit einem Mädchen verabredet waren, wollten nicht gleich deren Eltern kennenlernen. Und so bat Mrs McCluskey ihre Tochter, dann aber auf jeden Fall Fotos zu machen, und nach dem Ball entschuldigte Grace sich, dass sie das leider vergessen habe.
Am Ende ihres dritten Jahres hätte Grace am liebsten das College gewechselt, nur um den Peinlichkeiten des Frühlingsballs zu entkommen. Das College schien ihr noch die beste Chance zu bieten, einen Mann kennenzulernen, und sie fürchtete, wohl nie zu heiraten, wenn es ihr nicht binnen der nächsten zwölf Monate gelang, wenigstens für kurze Zeit einen Freund zu finden. Vielleicht sollte sie es wirklich an einer größeren Universität mit mehr Studenten versuchen. Vielleicht hatte sie in einem größeren Teich bessere Chancen. Aber wer wechselte schon kurz vor dem Abschluss noch mal die Universität?
Doch dann geschah mitten im Herbstsemester in Professor Greenes Überblicksseminar zur britischen Literatur ein Wunder. Die Studenten hatten eine Interpretation von Keats’ ›Ode auf die Melancholie‹ geschrieben, und dann hatte Professor Greene sie in Zweiergruppen eingeteilt mit der Aufgabe, sich über die Arbeit des jeweils anderen zu äußern. Grace war mit Kyle Caldwell zusammengekommen, einem jungen Mann, mit dem sie noch nie geredet hatte, auch wenn sie wusste, wer er war.
Grace hatte sich für das, was sie geschrieben hatte, geniert, denn sie hatte in dem Gedicht lauter sexuelle Anspielungengesehen und diese auch geradeheraus beschrieben, weil sie angenommen hatte, dass ihre Interpretation nur für die Augen ihrer Professorin gedacht sei. Und da saß nun dieser Typ, den sie kaum kannte, und ließ sich ganze zehn Minuten Zeit, um Graces Seite zu lesen, als würde er jedes Detail über die weiblichen Genitalien geradezu aufsaugen. Erst später erfuhr sie, dass Kyle an einer leichten Form von Legasthenie litt und deshalb immer so langsam las. Doch als er fertig war, sah Kyle sie ernst an und sagte: »Das ist die tollste Interpretation eines Gedichts, die ich je gelesen habe.«
Sie dachte, er würde sich über sie lustig machen, aber Kyle versicherte ihr aufrichtig: »Alles, was du da über den Tempel höchsten Glücks schreibst und darüber, dass der Dichter die Traube des Glücks an seinem Gaumen sprengt – also ehrlich, mir ist das alles nicht mal aufgefallen.« Als Grace Kyles Interpretation gelesen hatte, der jeder eigene Gedanke fehlte und die von grammatischen Fehlern wimmelte, wusste sie, warum er so leicht zu beeindrucken war. Kyle entschuldigte sich bei ihr, aber sie versicherte ihm, dass Englisch auch nicht ihr stärkstes Fach sei. Zahlen ergaben für Grace sehr viel mehr Sinn als alles, was Keats geschrieben haben mochte.
Aber Kyle war auch in Mathematik nicht viel besser als in Englisch. Er gestand ihr, dass er in Buchhaltung wegen Mathe ein C bekommen würde, und fragte Grace, ob sie nachmittags nicht bei ihm vorbeikommen und ihm bei den Hausaufgaben helfen könnte.
Ja, klar
. Sie war früher schon von Jungs gebeten worden, ihnen bei den Hausaufgaben »zu helfen«, was normalerweise hieß, dass sie die ganze Arbeit allein machen durfte, während die Jungs fernsahen oder zu einer Party gingen. Andererseits war sie noch nie in seinem Wohnheim gewesen – es war das luxuriöseste auf dem Campus –, und so erschien sie dort zur verabredeten Zeit, um sich die Perserteppiche und die ledernen Sessel anzusehen. Sie und Kyle saßen auf einer überdachten Veranda hinter dem Gebäude, die mit den braunen Weidenkorbmöbeln und dengoldenen Satinkissen, umgeben von Bromelien, hängenden Farnen und Deckenventilatoren Graces Vorstellung von einem marokkanischen Café entsprach.
Kyle schien an Graces Erklärungen von Aktiva und Passiva wirklich interessiert zu sein und erledigte den Großteil seiner Hausaufgaben selbst. Sie machte ihm nur Vorschläge, wenn er nicht mehr weiterwusste, und als er fertig war, bot er ihr zwanzig Dollar an.
Wie einer Streber-Nutte,
dachte sie und lehnte das Geld ab. Also lud Kyle sie auf ein Eis ein.
Von da an gab Grace Kyle regelmäßig Nachhilfe in Mathe und traf sich zweimal in der Woche mit ihm. Wie sich herausstellte, hatten Kyles Eltern von Anfang an Nachhilfelehrer für ihn engagiert – in der Grundschule, damit er Lesen lernte, später für Mathe und Spanisch und in der Highschool, um seine Noten für den College-Aufnahmetest zu verbessern.
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