Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Küche ihrer Mutter verbracht und den Nachbarsfrauen zugesehen, die sich am Resopaltisch der Küche zum Stricken, Plaudern und Durchblättern von Bestellkatalogen trafen, während sie Irish Coffee tranken. Mrs Higgins, Mrs Sellers und Mrs Stone hatten ein unermüdliches Interesse an den Hochzeiten, Krankheiten und Insolvenzen all ihrer Bekannten. Sie hatten das Glück, in einer Kleinstadt voller familiärer Tragödien zu wohnen, und Verstand genug, leise durch die Hintertür zu verschwinden, wenn sie Graces Vater um Viertel vor sechs die Auffahrt herauffahren hörten.
Es hatte Geborgenheit geherrscht in dieser Küche – Geborgenheit, Wärme und Wohlbehagen, und auch wenn Graces Mom keine überschwängliche Frau war, so war ihre Liebe für ihre Tochter doch immer vorbehaltlos gewesen. Und es belastete Grace, dass Maggie Greene ohne diese tägliche Fürsorge einer Mutter aufgewachsen war. Ein Mädchen brauchte eine Mom, die ihr das Backen, das Zöpfeflechten und die Grundlagen der Körperpflege beibrachte. Jedes Mal, wenn sie Maggie mit fettiger Haut, zerrissenen Sneakers und Pseudo-Gothic-Shirts in ihr Klassenzimmer kommen sah, wusste Grace, dass sie für vieles Sühneopfer zu leisten hatte.
»Sühneopfer« war allerdings ein recht ausgefallenes Wort und zu hochgestochen für Graces Leben. Es erklärte kaum, warum sie hier auf dem Parkplatz einer Highschool stand, einen grünen Ford Taunus aufschloss und ihre Tasche auf einen Rücksitz fallen ließ, der voller Flecken von Happy Meals war. »Sühneopfer« gab es nicht in einer Welt, in der Freude mit einer Extraportion Ketchup erkauft werden konnte. Wenn sie sich Maggie erklären wollte, musste sie Worte so banal wie ihre Existenz finden und mit dem Eingeständnis beginnen, dass der Hauptgrund für ihre Rückkehr nach Jackson einrein selbstsüchtiger und materieller war. Denn sie hatte diesen Job angenommen, weil sie Geld brauchte.
Maggie würde das verstehen – sie und ihr Dad schienen auch nicht im Geld zu schwimmen. Die Greenes würden wissen, was es für eine Familie bedeutete, ständig unter Geldmangel zu leiden, und zu welchen Kompromissen dieser tägliche Druck einen Menschen verleiten konnte.
Grace fuhr vorbei am Footballfeld, dem Basketballplatz und den Tennisanlagen, hielt kurz an der Ampel neben der Exxon-Tankstelle an und bog dann rechts ab. Sie zählte laut mit, als sie mit höherer Geschwindigkeit an 5-Guys -Burgers, dem Motel 6 und einem 7-Eleven -Laden vorbeifuhr. Alles, was dieser Stadt noch fehlte, war ein Super- 8-Hotel . Als Nächstes kamen ein Applebee’s Grill & Bar, ein Waffle House Diner, Wal-Mart und das halb leere Einkaufscenter, das einen Antiquitätenladen beherbergte, vor dem lauter nackte Amorstatuen und steinerne Vogelbäder herumstanden. Nach einer weiteren halben Meile verengte sich die wirtschaftlich nur mäßig erfolgreiche Kommerzstrecke der Stadt zu einer zweispurigen Landstraße, der Grace vierzig Minuten lang durch Wiesen und bewaldete Hügel folgte und die sie schließlich in das Blue-Ridge-Gebirge hinaufführte und wieder hinunter in die Außenbezirke von Placid Springs, einer Stadt, die zweimal so groß war wie Jackson und die eine Plastikfabrik, ein medizinisches Versorgungszentrum und einen Bahnhof besaß, aber dennoch nicht so groß war, dass Grace sie als Großstadt bezeichnet hätte.
Placid Springs war die Stadt, in der ihre Eltern wohnten, die Stätte ihrer Geburt, ihrer schwierigen Kindheit, ihrer unglücklichen Teenagerjahre und der Ort, an den sie, eine einunddreißigjährige Mutter, vor elf Monaten zurückgekehrt war, nachdem sie sich von ihrem Ehemann getrennt hatte. Seitdem war ihr Leben eine einzige Reise zurück in ihre Vergangenheit gewesen. Sie wohnte wieder in demselben Haus, in derselben Küche, in demselben Zimmer, das sich nur wenigverändert hatte seit ihrer Schulzeit, abgesehen davon, dass ihre Eltern ein Kinderbett für Lily hineingestellt hatten, sodass Mutter und Tochter nun wie in einem Wohnheim zusammenwohnten.
Nur übergangsweise,
hatte sie ihren Eltern versichert, als sie mit Lilys Spielzeugkiste und ihren Kleidern angekommen war. Bei ihren Eltern einzuziehen, ermöglichte ihr, Geld zu sparen, während sie sich in ihren neuen Job einarbeitete und nach einem bezahlbaren Zuhause suchte. Aber wenn sie ehrlich war, konnte sie nicht sagen, wie lange sie dort feststecken würde.
Geld war schon immer das Hauptproblem in Graces Leben gewesen, und es würde auch weiterhin ein Problem bleiben,
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