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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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und sich fragten, ob die neue Mathematiklehrerin ihnen dabei in die Quere kommen könnte. Die einzigen beiden anderen Väter im Raum schienen irgendwie verlegen, so als wären sie nur irrtümlich auf diesem Einführungsabend gelandet und nun leider dazu verdonnert,wie Exilanten in dieser unangenehmen fremden Umgebung auszuharren. Sie hatten zu jener Sorte Männer gehört, die mit dem Alter weicher und fülliger wurden. Mr Greene jedoch erschien Grace noch hagerer, als sie ihn von damals in Erinnerung hatte. Maggies Dad sah aus, als wäre er in den letzten zehn Jahren täglich einen Marathon gelaufen.
    Als sie seine Frage beantwortete, blickte sie ihm nicht in die Augen. Grace wusste, dass sie sich noch nie begegnet waren   – nur Maggie und ihre Mutter hatten Grace gesehen. Aber sie wusste nicht, welche Bilder von ihr in den Zeitungen abgedruckt worden waren, und sie betete, dass er sie nicht erkennen möge. Mit dem hochgesteckten Haar und dem älter gewordenen Gesicht ähnelte sie den schwarz-weißen Presseausschnitten aus der Vergangenheit sicher nicht mehr. Trotzdem sah sie Maggies Vater nur kurz an, als er sprach, und richtete den Blick auf die anderen Eltern, während sie seine Frage beantwortete.
    Als es klingelte und die Familien in andere Klassenzimmer weitergingen, war ihr aufgefallen, wie Mr Greene Maggie den Arm um die Schultern legte, nachdem er aufgestanden war. Die anderen Eltern fassten ihre Kinder nicht an   – nur wenige Teenager hätten wohl eine solche Gefühlsäußerung in aller Öffentlichkeit geduldet. Doch dieser Vater und seine Tochter schienen ein Team zu sein. Grace hatte den Blick schnell wieder gesenkt, da sie das Gefühl hatte, dass es schon zu aufdringlich war, sie auch nur anzusehen.
    Jetzt trat sie aus dem Treppenhaus in die Eingangshalle der Schule, die sich bis zum Büro des Direktors erstreckte. Zu ihrer Linken sah sie hinter einer Glaswand, nur teilweise verdeckt von Jalousien, zwei Sekretärinnen an dunklen Holzschreibtischen sitzen und mit dem Basketballtrainer plaudern. Der Beratungslehrer für die Schüler, die neu an der Schule waren, gesellte sich zu dem Trio. Als er kurz aufsah, winkte er Grace zu, und Grace erwiderte den Gruß, ehe sie die Metalltüren in die Vorhalle aufstieß, die als eine ArtHandy-Lounge diente und wo ein halbes Dutzend Schüler ihre Daumen trainierten.
    »Tschüss, Mrs Murdock«, sagte ein Junge, ohne aufzusehen.
    »Tschüss, Eddie«, erwiderte sie und drückte die nächste Tür auf, die sie in die helle Oktobersonne hinausführte, eine echte Befreiung nach dem Neonlicht in der Schule, das ihr immer das Gefühl gab, als wäre sie den ganzen Tag unter Wasser. Vor ihr standen um ein Blumenbeet mit einer bronzenen Sonnenuhr einige rote Metallbänke. Die Schüler des Kurses für Gartenbau wechselten die Blumen zu jeder Jahreszeit   – jetzt im Herbst blühten dort gelbe und rote Chrysanthemen.
    Der Parkplatz für Lehrer und Schüler erstreckte sich rechts und links jeweils fünfzig Meter weit. Grace konnte die langen Reihen von Autos jeden Tag von ihrem Klassenzimmer aus sehen und hatte gelegentlich auch schon Maggies Dad bemerkt, der dort oft an der Tür seines Autos lehnte, das ein alter grauer Toyota Camry zu sein schien. Wann immer seine Tochter kam, beeilte Mr Greene sich, ihr den schweren Rucksack von der Schulter zu nehmen, ihn ins Auto zu stellen und ihr die Tür aufzuhalten. Wenn Grace das sah, musste sie an das höfliche Verhalten ihres eigenen Vaters denken und daran, dass er einem die Tür mit kalter Förmlichkeit aufhielt, die so gar nichts von Mr Greenes Gesten liebevoller Zuneigung hatte. Sie konnte nicht sagen, ob ihr Vater je Gefühle echter Zärtlichkeit für sie empfunden hatte. Vielleicht hätte er einen Sohn mehr geschätzt   – einen Sportler oder Soldaten, der aus einem ausländischen Krieg hätte zurückkehren und die Schlachten seines Vaters an der Heimatfront schlagen können, die täglichen Kämpfe nämlich zwischen dem Eisenwarengeschäft seines Dads und den ihn umzingelnden feindlichen Truppen des Marktriesen Home Depot.
    Grace war es nie gelungen, Begeisterung für Bolzen und Schraubenschlüssel vorzutäuschen. Sie war immer das Kind ihrer Mutter gewesen und hatte stets eifrig beim Backenvon Zitronenkuchen und Weihnachtsplätzchen geholfen oder beim Abfüllen von übrig gebliebenen Speisen, die ihre Mutter in Tupperware-Behältern einfror. Bis sie dreizehn war, hatte Grace die meisten Nachmittage unter der Woche in der

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