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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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Infolgedessen war er überzeugt, dass er hoffnungslos dumm war und immer jemanden brauchte, der ihm die Hand hielt. Grace war der Ansicht, dass Kyle viel klüger war, als er sich selbst eingestand. Er konnte seine Aufgaben in Buchhaltung selbst lösen, sie musste die Arbeiten danach nur auf Flüchtigkeitsfehler durchsehen.
    Nach einem Monat hatten sich seine Noten in Buchhaltung deutlich verbessert, und diesen Erfolg sah er als Graces Verdienst an. Kyle war denn auch der Erste, der sie ermutigte, Mathematiklehrerin zu werden. Grace liebte Geometrie und Analysis und konnte sich sogar mit Algebra abfinden, aber sie hatte stets geglaubt, dass sie mit Menschen nicht besonders gut umgehen könne und deshalb für den Lehrerberuf nicht geeignet sei. Für die Kinder wäre sie ein leichtes Opfer. Kyle Caldwell jedoch gab ihr das Gefühl, sympathisch und kompetent zu sein und   – zum ersten Mal in ihrem Leben   – etwas Besonderes. Nach einem Monat waren die Nachhilfetreffen der beiden in eine Beziehung gemündet.
    Kyle war weder brillant noch gut aussehend, aber schon seine reine Existenz freute Graces Mutter. Jede Woche wolltesie in allen Einzelheiten erfahren, was Grace und Kyle unternommen hatten. In welchem Restaurant waren sie gewesen? Zu welchen Partys waren sie gegangen? Und vor einem Abendessen ließ Grace ihre Mom einmal zu Besuch kommen, nur damit Mrs McCluskey Kyle die Hand schütteln konnte, als er Grace abholen kam. Sie wohnte inzwischen in einem eigenen Apartment, gleich neben dem Tauchsportcenter, und als Kyle in seinem BM W-Cabrio vorfuhr, hatte Mrs McCluskey beeindruckt aus dem Fenster gesehen.
    »Ich habe dir doch gesagt, er ist ein Caldwell«, flüsterte Grace. »Starr bitte nicht so raus.« Kyle lud Mrs McCluskey ein, sie zum Abendessen zu begleiten, doch sie lehnte ab, sie müsse zurück nach Hause zu ihrem Mann, und Grace lächelte bei dem Gedanken daran, wie ihre Mutter von den freudigen Neuigkeiten berichten würde. Von diesem Zeitpunkt an war sie die goldene Tochter, und all ihre vergangenen Misserfolge verblassten vor der reinigenden Realität von Kyles Existenz.
    Grace hatte ihrer Mutter nie erzählt, dass Kyle ein Dieb war. Dieses Detail kam eines Nachmittags ans Licht, als Grace und Kyle an der Selbstbedienungskasse bei Safeway Bier kauften. Eine Angestellte kam, um Kyles Ausweis zu überprüfen, und sobald sie sich umgedreht hatte, nahm er eine Packung Kaugummi aus dem Süßigkeitenständer. Er griff nicht hastig danach und blickte sich auch nicht um, ob jemand hersah, sondern nahm ihn einfach, so als gehörte ihm der Kaugummi sowieso, und steckte ihn in die Tasche. Grace war schockiert, aber nachdem sie diesen kleinen Diebstahl erst einmal bemerkt hatte, fiel ihr auf, wie oft er in anderen Geschäften irgendetwas mitgehen ließ. Bei Wal-Mart füllte Kyle den Einkaufswagen und zog alles bis auf ein Teil über die Selbstbedienungskasse. Wenn auf dem Display die Frage auftauchte, ob er noch etwas in seinem Wagen habe, drückte er die Nein-Taste. Es war, als meinte Kyle, jedes Mal, wenn er einkaufen ging, einen Anspruch auf ein zusätzliches Geschenkzu haben: einen Schokoriegel, Pfefferminzbonbons, eine Schachtel Tic Tac.
    Grace vermutete, dass Kyles Gewichtsproblem mit diesem Diebstahl von Süßigkeiten zu tun hatte; sein Übergewicht ließ ihn wie ein stämmiges, zu groß gewachsenes Kleinkind aussehen. Vielleicht versuchte er so, Entbehrungen der Kindheit zu kompensieren. Seine Mom hatte ihm vermutlich alle Süßigkeiten verboten. Doch dann sah Grace ihn auch andere Dinge stehlen   – CDs, Lippenbalsam, ein Feuerzeug   –, und er schien seinen Diebstahl gar nicht als solchen anzusehen. Seiner Ansicht nach gab er in all den Geschäften so viel Geld aus, dass er Anspruch auf ein paar Gratiszugaben hatte.
    Dieselbe Haltung legte er auch Holford gegenüber an den Tag; angeblich schuldete ihm das College mehr, als er im Gegenzug erhielt. Als er eines Tages einen Hefter brauchte, um die Blätter eines Essays für Englisch zusammenzutackern, spazierte er einfach in das Büro der Institutssekretärin, während sie beim Lunch war, und »borgte« sich ihren aus, ohne ihn je zurückzubringen. »Mein Dad hat diesem College so viele Millionen gespendet«, erklärte Kyle, »da haben wir sehr viel mehr verdient als nur einen Hefter.«
    Grace sah ihn aber auch Leute bestehlen, die ihm nichts schuldeten. Auf einer Party in einem Haus, das drei Holford-Studentinnen zusammen gemietet hatten, ging sie mit

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