Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Grace von seinem Bett aus mit angsterfülltem Blick angestarrt. Wenn sie anrief und ohne weitere Erklärung nach Maggie fragte, würde Mr Greene annehmen, dass seine Tochter Schwierigkeiten hatte – dass ihreNoten schlecht waren oder es irgendein Problem im Unterricht gegeben hatte; vielleicht würde er sogar gleich um eine Sprechstunde bei der Lehrerin bitten.
Sie konnte Maggie natürlich immer eine E-Mail schicken, aber wenn Maggie nicht antwortete, konnte Grace nicht sicher sein, ob die Nachricht das Mädchen überhaupt erreicht hatte. Sie fragte sich oft, ob ihre Wörter sich im virtuellen Raum des Internets wohl einfach in nichts auflösten, sobald sie
Senden
anklickte. Es gab so viele Leute, die nie antworteten.
Bei einer so heiklen Angelegenheit musste Grace Maggie in die Augen sehen, um nach Verständnis, ja vielleicht sogar nach einem Anflug von Mitgefühl Ausschau zu halten. Es war riskant, ihren Seelenfrieden von dem Wohlwollen eines Kindes abhängig zu machen, vielmehr eines Teenagers, der vermutlich keinem Erwachsenen gegenüber sonderlich gütig eingestellt war. Aber sie hatte dieses Schicksal selbst gewählt. Morgen nach dem Unterricht würde sie Maggie bitten, noch ein paar Minuten zu bleiben, um Zeit und Ort für ein ausführliches Gespräch mit ihr zu vereinbaren.
Nach weiteren zehn Minuten hatte Grace die Ausläufer der Appalachen erreicht, wo die Wälder allmählich von Wiesen, Weiden und entlegenen Farmhäusern verdrängt wurden, bis das Land schließlich aus komplett erschlossenen Flächen bestand – grüne Grundstücke von zwei bis drei Hektar Größe, auf denen Häuser standen und ein paar Ahornbäume und Hartriegelsträucher angepflanzt waren, die mehr als nur kleine Flecken Schatten spenden sollten, wenn sie erst einmal gewachsen waren. Immer kleiner wurden die Grundstücke, bis es nur noch einzeln stehende Häuser mit Garage, aber ohne Garten waren und die Straße noch ein Stück weiter in eine vierspurige Fahrbahn überging, die gesäumt war von McDonald’s, Wendy’s und Burger King sowie Exxon-, Citgo- und Shell-Tankstellen und das gleiche trostlose Willkommen bot wie die meisten Städte überall in Amerika.
Grace bog rechts ab, dann links und fuhr in ein von Bäumen bestandenes Wohnviertel mit bescheidenen Häusern, meist einfache zweistöckige Holzbauten mit schmalen Veranden, aber auch einige Backsteinhäuser im Ranchstil, deren unansehnliche Anbauten zu allen Seiten wie Kröpfe hervorquollen. Sie bog in die Auffahrt eines kleinen olivgrün angestrichenen Hauses mit Dachgiebeln ein, dessen Fenster- und Türrahmen weiß abgesetzt waren – seit dreißig Jahren immer die gleichen Farben, zwar stets erneuert, aber nie verändert.
Die Schultasche in der Hand stieg Grace aus dem Auto und ging ums Haus herum zum hinteren Eingang, der in die Waschküche und von dort aus in die Küche mit dem beigefarbenen Küchentresen führte. Die Szenerie, die sich Grace bot, erinnerte sie an ihre Kindheit. Mrs Higgins saß da, trank Kaffee und las die aktuelle Ausgabe der Frauenzeitschrift ›Redbook‹, während Graces fast sechzigjährige Mutter sich am Küchentresen über Lily beugte, mit ihren alt gewordenen Händen die rosa Finger des Kindes umschloss und der Kleinen half, den elektrischen Mixer über einer großen Schüssel aus Metall gerade zu halten.
»Wir backen Kekse!«, verkündete Lily stolz, als sie sich lächelnd zu ihrer Mom umdrehte.
»Das sehe ich.« Grace nickte und trat auf die beiden zu, um ihnen einen raschen Kuss auf die Wange zu geben. »Welche Sorte macht ihr denn?«
»Schokoknöpfchen!« Das war zurzeit Lilys Lieblingswort.
»Und wer darf die Rührhaken ablecken?«
»Ich!«
»Du auch.« Mrs McCluskey entfernte die Rührhaken aus dem Mixer und reichte Grace und Lily jeweils einen. »Ich hole jetzt die Backbleche, und dann darfst du sie einfetten«, versprach sie ihrer Enkelin, ehe sie sich an Grace wandte.
»Wie war’s in der Arbeit?«
»Prima.«
»Gibt’s irgendwas Interessantes an der Highschool?«
»Nicht viel.« Grace zuckte die Achseln. »Die älteren Schüler wollen einen Schulkönig und eine Schulkönigin wählen, die dann am Freitag beim Footballspiel gekrönt werden.«
»Also, mir kommt das albern vor.« Mrs Higgins schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. »Welcher Junge will bei so was denn mitmachen?«
Wer wollte es nicht?, dachte Grace. Auch wenn der Schulkönig eigentlich ein König der Narren war, der aus der Riege der am wenigsten
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