Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
klangen diese Worte wie eine Entschuldigung, so als wäre sie eine gehorsame Dienerin, die gegen ihren Willen handelt.
In der Mittagspause versuchte es Grace im Lehrerzimmer mit einer nichtreligiösen Version. In ein Notizbuch mit breit liniertem Papier schrieb sie den Satz: »Ich glaube, dass das Schicksal all das arrangiert hat – und dass es uns beiden vorherbestimmt war, uns wiederzusehen.« Das Wort »vorherbestimmt« gefiel ihr besonders gut, vor allem die Art, wie es auf der zweiten Silbe betont wurde, die einen rhythmischen Dreiklang einleitete. Doch der Rest des Satzes klang so, als wollte sie dem Mädchen einen Heiratsantrag machen. Grace riss die Seite heraus und zerknüllte sie.
Vielleicht konnte sie das »vorherbestimmt« in einem besseren Satz unterbringen, in einem über die seltsam verschlungenen Wege, die das Leben oft nahm. Grace aß ein paar Bissen von ihrem Thunfisch-Sandwich und musste daran denken, dass sie einmal ein lateinamerikanisches Mädchennamens Destinee, »Schicksal«, in ihrer Klasse gehabt hatte, das von den Jungen der Schule grausame Witze über sich ergehen lassen musste. Ihr farbloses Gesicht, ihre arme Familie und ihre schlechten Noten … ihr erschien kein anderes Schicksal vorherbestimmt als ein Job bei McDonald’s.
Und plötzlich schrieb Grace die einfachsten, direktesten Sätze aufs Papier, die ihr einfielen:
Wir müssen über das reden, was vor neun Jahren passiert ist. Ich habe Dir so viel zu erzählen, Dinge, die Du vielleicht nicht weißt. Wann können wir uns treffen?
Dann riss sie das Blatt aus dem Notizbuch heraus, faltete es sorgfältig zusammen und steckte es in ihre Rocktasche.
Als am Nachmittag die Schüler des Geometriekurses langsam hereingeschlendert kamen, konnte Grace ihre Hand kaum noch ruhig genug halten, um eine Acht an die Tafel zu schreiben. Die Rundungen waren zittrig wie ein sich windender Faden, also setzte sie sich an den Schreibtisch und konzentrierte sich auf ihr Bild von Jesus:
Herr, gib mir Kraft.
Als es klingelte und die Schüler zu flüstern und zu kichern begannen, sah sie zu Maggies Tisch hinüber, doch deren Stuhl war leer.
»Hat jemand Maggie Greene gesehen?« Grace versuchte, ganz beiläufig zu klingen.
»Ich glaube, sie ist krank«, erwiderte ein Mädchen. »In Englisch und Naturwissenschaft hat sie heute auch schon gefehlt.«
Natürlich. Maggie brauchte einen Tag, um den Schock zu verdauen. Grace holte einmal tief Luft und trat an die Tafel, erleichtert, dass sie noch einen weiteren Abend Zeit hatte, um ein paar Worte der Reue zu formulieren.
Am Donnerstag fehlte Maggie jedoch noch immer, und am Freitag, als die Schüler sich zu ihrer letzten Stunde des Tages bei ihr einfanden, stand Grace am Fenster, erstarrt vor Furcht.
Mr Greene war auf den Parkplatz gefahren und stieg jetzt aus seinem Auto aus.
Es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass Maggieihren Dad schicken würde – dass Grace ihre Geschichte dem Vater erzählen müsste, statt dem Kind. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass Maggie und sie aneinander gebunden waren. Das Mädchen würde sich noch erinnern, wie sie beide sich vor neun Jahren in die Augen gesehen hatten, und würde verstehen, dass sie irgendwann einmal miteinander reden mussten.
Grace trat einen Schritt zurück, als Mr Greene das Auto abschloss. Er sollte nicht bemerken, dass sie ihn vom Fenster aus beobachtete, wenn er zufällig aufschaute. Stattdessen sah sie aus sicherer Entfernung zu, wie er im Schulgebäude verschwand. Schon bald würde sich das Sekretariat über die Sprechanlage in ihrem Klassenzimmer melden und sie nach unten bitten. Und dort gäbe es dann keine Möglichkeit mehr, unter vier Augen mit Mr Greene zu sprechen und ihm zu erklären, warum sie jetzt an dieser Schule war und damals bei ihm zu Hause. Wenn er zuerst mit dem Direktor sprach, würde sie sich den beiden gemeinsam erklären müssen, und diese zwei Männer würden das ausgeprägt weibliche Dilemma ihres Lebens nie verstehen, und wie es kam, dass sich ein bescheidenes Mädchen in die Gesellschaft so gefährlicher junger Männer hatte begeben können, die mitten in der Nacht bei fremden Leuten vor der Tür standen.
Die Sprechanlage unterbrach knisternd ihre Gedanken.
»Mrs Murdock?«
Grace holte langsam Luft. »Ja.«
»Könnten Sie wohl jemanden mit den Hausaufgaben für Maggie Greene herunterschicken? Ihr Vater ist hier, um sie abzuholen.«
Grace starrte schweigend auf ihre Hände.
»Mrs Murdock?«
»Ja,
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