Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Kyle durch eines der Schlafzimmer, um zur Toilette zu gelangen. Plötzlich blieb er stehen und nahm das Make-up, die Parfümflakons und den Schmuck auf einer Kommode in Augenschein. Nachdem er an einigen der Flakons gerochen hatte, steckte er einen kleinen grünen in seine Jackentasche. »Ein Souvenir«, sagte er lächelnd zu Grace. Sie hatte keine Ahnung, was er mit diesem Parfüm wollte – er schenkte es ihr nicht –, doch am meisten verwunderte sie, dass Kyle mit all seinen Diebstählen immer durchkam. Überall, wohin sie gingen, klaute er etwas.
Sie wollte nicht dabei sein, wenn Kyle irgendwann einmalkein Glück mehr hatte, und so begann Grace, im Auto zu warten, wenn er ein Geschäft betrat. Sie dachte sogar daran, Schluss zu machen, schließlich war Diebstahl eine größere Sünde als ihre Neigung zum Lügen. Doch Graces schwache moralische Grundsätze konnten ihren Wunsch nach einem festen Freund nicht besiegen. Und jetzt im April näherte sich der Frühlingsball wieder, und sie war fest entschlossen, wenigstens einmal in ihrem Leben daran teilzunehmen. Außerdem war auch ihre Mutter schon ganz aufgeregt. Mrs McCluskey hatte sie Ende März besucht und Kyle und Grace zum Abendessen zu Applebee’s eingeladen, was sie als etwas ganz Besonderes ansah. Da Kyles Eltern nie in Restaurants aßen, die zu einer Kette gehörten, schien er sich zu wundern, dass eine Mutter ein Lokal mit laminierten Menükarten aussuchte. Ihr Auto hatte ihn auch schon schockiert – Grace sah es in seinen Augen. Wahrscheinlich hatte er noch nie jemanden gekannt, der einen Buick fuhr.
Auf dem Ball trug Grace dann das Kleid, das ihre Mom ihr im Jahr zuvor gekauft hatte, und bat eine Freundin, ein paar Fotos von Kyle und ihr zu machen, in der Hoffnung, alle früheren Lügen auslöschen zu können. Immerhin wurden ihre Geschichten jetzt in ihrem letzten College-Jahr doch noch wahr. Kyle und sie aßen in einem französischen Restaurant und vergnügten sich danach bei einigen langsamen Tänzen im säulenverzierten Speisesaal des Holford Colleges, der mit einem Dutzend herbeigeschaffter Palmen und mit Lichterketten geschmückt worden war, um dem Karibik-Motto gerecht zu werden. Es gab nichts zu stehlen für Kyle, nur ein paar Seidenorchideen von einem Tisch, die er sich wie ein Anstecksträußchen ans Revers heftete.
Wäre Grace klug gewesen, hätte sie sich kurz nach dem Frühlingsball endlich von Kyle getrennt. Es gab für sie ohnehin keine gemeinsame Zukunft. Kyle würde nach dem College-Abschluss nach New York gehen, um in einer Bank zu arbeiten, und Grace war bei ihrem einzigen Besuch in Manhattanvon den vielen Menschen und dem Lärm nur genervt gewesen. Sie könnte nie in einer Metropole Lehrerin sein – ein netter Vorort einer mittelgroßen Stadt, das wäre ideal.
In den letzten Jahren war Grace in ihren Tagträumen oft zu jenen Tagen im April nach dem Ball zurückgekehrt und hatte sich ausgemalt, sie hätte ihre erste Liebesaffäre erhobenen Hauptes beendet und Kyle einfach alles Gute für seinen weiteren Lebensweg gewünscht. Dann hätte sie nie einen Fuß auf Professor Greenes Grundstück gesetzt, hätte Kyle nie die Puppen eines fünfjährigen Mädchens stehlen sehen und nie die Konfrontation erlebt, als er schließlich erwischt wurde. Wer hätte gedacht, dass Kyle nach all den Ladendiebstählen nicht von einem Angestellten bei Wal-Mart gestellt werden würde, sondern im Haus einer Professorin? Und sie hätte auch nie die furchtbaren Dinge erlebt, die darauf folgten – die Eskalation von Geschrei über Drohungen bis hin zu blutiger Gewalt –, die zusammengenommen zu den schlimmsten Lügen ihres Lebens geführt hatten. Zu den Lügen der Polizei gegenüber, zu den Lügen ihrer Familie gegenüber, zu den Lügen, die Maggie Greene schadeten.
Als sie den Kamm des Humpback Mountain erreicht hatte und auf der anderen Seite wieder hinunterfuhr, fühlte Grace sich wie beschützt von den Lorbeerrosensträuchern und den Rhododendronbüschen, von den Moosflecken, den weichen Kiefernnadeln und den Farnen. Sonnenlicht flackerte über die Motorhaube ihres Autos, und als sie es aufblitzen und wieder entschwinden sah, fragte Grace sich, ob sie Maggie von zu Hause aus anrufen sollte. Sie mussten einen Zeitpunkt ausmachen, um sich zu treffen, aber sie wollte nicht mit Maggies Dad sprechen. Grace empfand eine Verpflichtung der Tochter gegenüber, nicht dem Vater. Mr Greene war vor neun Jahren nicht da gewesen, nicht er hatte
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