Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
unansehnlichen Streber der Schule gewählt wurde, hatten die Jungs aus dem Mathe-Club, die nominiert waren, Grace erzählt, dass sie die Idee klasse fänden. Sie nahmen das Ganze von der komischen Seite und freuten sich schon darauf, am Samstag in der Halbzeit des Footballspiels die Königin samt ihrem Hofstaat über das Feld zu geleiten. Wann sonst bot sich ihnen die Gelegenheit, Arm in Arm mit der Crème de la crème der Schule zu gehen, den Mädchen mit der reinsten Haut, den weichsten Kaschmirpullovern und den teuersten Zahnregulierungen?
»Hört sich für mich mehr wie Mädchenkram an«, fuhr Mrs Higgins fort. »Aber ich bin ja auch ein Dinosaurier in diesen Dingen. Möchtest du eine Tasse Kaffee?«
Grace schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich will vor dem Abendessen noch Klausuren korrigieren.«
Mrs Higgins entließ sie mit einer Handbewegung, und Grace drückte Lily noch einmal an sich, bevor sie sich in ihr Zimmer zurückzog.
Im zweiten Stock des Hauses befanden sich zwei Zimmer mit einem kleinen, voll ausgestatteten Badezimmer dazwischen. Grace und Lily bewohnten das Zimmer nach Osten hinaus, während ihre Eltern in dem nach Westen schliefen, und das war genau richtig so, wie ihre Mutter ihr erklärt hatte, denn die jüngere Generation sollte die Sonnenaufgänge und die ältere die Sonnenuntergänge sehen können. Auch wenn weder das eine noch das andere von einem der beiden Zimmer aus wirklich möglich war, weil die Fenster auf die Dachschindelnder Nachbarhäuser hinausgingen und auf vorhanglose Räume, in denen Kinder allein vor dem Fernseher saßen.
Beide Zimmer hatten schräge Wände, sodass Graces Zehen sich bedenklich der Dachschräge näherten, als sie sich jetzt auf ihrem Bett ausstreckte. Nur Lily konnte aufrecht am Ende des Zimmers stehen, und es machte ihr Spaß, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und mit den Fingern so lange die Dachschräge entlangzuspazieren, bis sie nicht mehr hinaufreichte. Dann kletterte sie aufs Bett und folgte der Schräge weiter, vom Fußende hin zur Mitte des Bettes, bis sie erneut zu klein war. Doch wann immer Grace die nackten Füße ihrer Tochter über die rosa-grün bestickte Tagesdecke trippeln sah, versetzte es ihr einen Stich. Was für eine Ironie, sie war aus einer gescheiterten Ehe nach Hause zurückgekehrt, und ihre Mutter hatte einen mit Eheringen gemusterten Quilt für sie auf ihrem Bett ausgebreitet.
Grace strich mit dem rechten Zeigefinger über das Muster, fuhr einen Ring entlang, bis er in den nächsten überging und dann wieder in den nächsten – viele Ehen, dachte sie, nicht die eine monogame lebenslange Verbindung. Seufzend drehte sie sich zu ihrem Nachttisch um und griff nach dem Rätselbuch ›Sudoku für Experten‹, so als könnten Quadrate voller Zahlen alles andere auslöschen; und sie hatte schon alle Achten und Siebenen eingetragen, ehe sie Lily die Treppe heraufrennen hörte. Die Tür sprang auf, und da stand das Kind in seiner vierjährigen Perfektion, mit den dunklen, zu Zöpfen geflochtenen Haaren und den rosigen Lippen mit etwas Keksteig in den Mundwinkeln. Lily kam auf sie zugerannt, hüpfte aufs Bett und kuschelte sich an ihre Mom.
»Ich dachte, du wolltest die Backbleche einfetten und Kekse backen«, sagte Grace.
»Ich bin müde«, lamentierte Lily. »Oma sagt, sie macht es selber. Kannst du mir was vorlesen?«
»›Madeline‹ oder ›Coco, der neugierige Affe‹?«
»Beide.«
Am nächsten Tag aß Grace nichts zum Frühstück, und die zwei Tassen Kaffee auf leeren Magen machten sie ganz nervös, sodass sie auf ihrer morgendlichen Fahrt mit Bleifuß aufs Gaspedal trat. Sie überquerte den Berg in Rekordzeit und hörte sich dabei Nachrichten über Selbstmordattentäter, Flugzeugabstürze und die Wirtschaftskrise an, bis ihr auch die bevorstehende Begegnung mit Maggie wie ein Teil eines riesigen düsteren Wandteppichs erschien – so viel Tod und Achtlosigkeit und schwere Schuld.
Als der Schultag schließlich begann, war sie völlig zerstreut. In ihrem Unterricht schrieb sie falsche Zahlen an die Tafel, korrigierte sie und entschuldigte sich, nur um erneut Fehler zu machen. Die beiden Sätze, die sie sich am letzten Abend immer wieder vorgesagt hatte –
Ich glaube, dass Jesus all das geplant hat. Er will, dass wir uns versöhnen –
, erschienen ihr jetzt lächerlich. Maggie war vermutlich gar nicht religiös und würde schon bei der leisesten Erwähnung von Jesus verächtlich schnauben. Und außerdem
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