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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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inspizierte die Toilette jede Woche zu einer anderen Tageszeit, sodass niemand ihr Erscheinen vorhersagen konnte. Aber laut den Gerüchten in der Cafeteria hatte es heute Vormittag bereits eine Razzia gegeben. Daher hoffte Maggie, dass die »Lounge« in der siebten Stunde sicher war.
    Sie hatte nicht geahnt, wie lächerlich es sich anfühlte, eine Dreiviertelstunde lang in einer Toilettenkabine zu hocken und die ›Klopapierzeitung‹ zu lesen, ein laminiertes Blatt mit Cartoons und Anekdoten, das innen an der Tür klebte und die Schülerinnen vor dem Rauchen, vor Alkohol und vor der Gefahr einer Vergewaltigung beim Date warnte. Irgendwer hatte »Ich liebe Joints!« quer darübergeschrieben, mit einem schwarzen Kugelschreiber, der sich so stark in das Plastik eingegraben hatte, dass selbst ein Blinder die Worte mit den Fingern hätte entziffern können. In der Behindertentoilette gleich neben Maggies Kabine redeten zwei Schülerinnen über den Schulball: Wer kam schon betrunken an, wer ging betrunken weg, wer tanzte wie eng mit wem.
    »Oh mein Gott, hast du gesehen, dass Dave Huffner seine Krone heute Morgen mit in die Schule gebracht hat? Er klammert sich dran fest, als wäre der Witz nicht längst vorbei.«
    »Wie peinlich.«
    »Ultrapeinlich.«
    Maggie hielt sich die Ohren zu, schloss die Augen und hätte am liebsten all ihre Sinne ausgeschaltet: taub gegen dasGerede der Mädchen, blind für die Kabine, unempfindlich für das harte Porzellan des Toilettensitzes. Am schlimmsten aber war der Gestank, ein Potpourri aus Urin und Lysol, Marihuana und verstopften Toiletten, mit einem Hauch von Erbrochenem. Sie versuchte, durch den Mund zu atmen, konnte aber den Rauch schmecken. Nach zehn Minuten waren ihr die Gerüche in Haar und Kleidung gedrungen und setzten sich auch in den Poren ihrer Haut fest, sodass sie die Toilette vorzeitig verließ und zu ihrem Spind ging, um ihre Bücher und ihren Pullover zu holen. Als die Schulglocke klingelte, rannte sie hinaus und hoffte, sich ein wenig auslüften zu können, ehe ihr Dad ankam.
    Morgen brauchte sie eine bessere Idee, und Maggie überlegte, sich in der siebten Stunde einfach ins Dairy-Queen-Eiscafé ein Stück die Straße hinunter zu verziehen. Die Zwölftklässler gönnten sich am Nachmittag manchmal zu zweit oder zu dritt eine Eiscreme-Pause und kamen dann mit Waffeln oder Bechern voll Eis zurück in die Schule. Schüler, die am Selbststudienprogramm teilnahmen, durften auch kommen und gehen, wann sie wollten, und die Mitarbeiter der Schülerzeitung gingen ständig ein und aus, etwa um Interviews außerhalb der Schule zu führen. Neuntklässler jedoch mussten auf dem Schulgelände bleiben, und Maggie fürchtete, sie würde zu jung und schuldbewusst aussehen, wenn sie allein am Sportplatz und den Tennisanlagen vorbeiging.
    Am nächsten Tag in der Cafeteria hatte sie schließlich eine bessere Idee. Es blieb nicht mehr viel Zeit bis zur siebten Unterrichtsstunde. Maggie hatte insgeheim schon eine Liste aller Hausmeisterschränke aufgestellt, die sich als Versteck eignen würden, da blickte sie von ihrer Himbeergötterspeise auf und sah durch das schmutzige Fenster, dass die Rückseite der Highschool ein weiträumiges U formte, mit einem Anbau rechts, der Turnhalle links und einer großen Grünfläche mit einem halben Dutzend Picknicktischen geradeaus, hinter der ein Fußballfeld lag, und dahinter ein Wald.
    Dieser Wald war nicht nur eine schmale, kiefernbestandene Grundstücksgrenze oder ein Puffer zwischen der Schule und einer anderweitig genutzten Fläche Land. Er zog sich meilenweit hin bis zum Jefferson National Forest und verwischte die Grenze zwischen Stadt und Wildnis.
Anheimelnd, dunkel, tief die Wälder,
dachte Maggie. Dort könnte sie verschwinden, genau so wie sie es als kleines Kind gemacht hatte   – geh der College-Studentin aus dem Weg, indem du eins wirst mit dem Wald.
    Die einzige Frage war, wie sie das Fußballfeld unbemerkt überqueren sollte. Andererseits, wer würde sie von dieser Seite des Gebäudes aus schon sehen? Weder die Turnhalle noch der Anbau hatten Fenster in diese Richtung, und in der siebten Stunde würde auch keiner mehr in der Cafeteria sitzen. Und außerdem, wer würde sich schon Gedanken über ein Mädchen machen, das spazieren ging?
    Als in der Pause zwischen der sechsten und siebten Stunde alle noch einmal die Klassenzimmer wechselten, schlich sich Maggie hinunter ins Erdgeschoss in die Nähe der Turnhalle und drückte sich dort

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