Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
herum, bis die Korridore beinahe leer waren. Als es zum Unterricht klingelte, öffnete sie die schwere Tür, schlüpfte hinaus und ließ sie metallisch dröhnend wieder ins Schloss fallen, während die Schulglocke das Geräusch überdeckte. Maggie rannte nicht, und sie sah sich weder um, noch blickte sie nach rechts oder nach links. Sie richtete den Blick konzentriert auf die Bäume und näherte sich ihnen so zielstrebig, als würde sich ihr nächster Kurs im Wald treffen und sie wäre einige Minuten zu spät dran.
Als sie in den Wald trat, spürte sie, dass sie in eine andere, authentischere Welt eintauchte, in der es keine flackernden Neonröhren und lauten respektlosen Menschen gab. Der Wald, der auf sie als Kind so dunkel und furchteinflößend gewirkt hatte, hieß sie jetzt mit leuchtend roten Armen willkommen. Sie stellte sich vor, sie wäre die erste Schülerin, die diese Bäume entdeckt hatte, das einzige Mädchen, das je dieFinken aufstörte, die im herabgefallenen Laub herumhüpften – eine Illusion, die sogleich zerstört wurde, als sie zehn Meter weiter auf ein benutztes Kondom trat. Noch zehn Meter weiter, und Maggie traf auf verstreute Zigarettenstummel und leere, halb vergrabene Bierdosen, samt einem umgestürzten Baum, der wohl als provisorische Sitzbank gedient hatte: der legendäre »Raucher-Club«, vor Jahren der Lieblingstreffpunkt der wildesten Teenager der Schule. Heutzutage bevorzugten sie Verstecke mit WLA N-Anschluss .
Sie wandte sich nach links und ging tiefer in den Wald hinein, weg von den Tabakabfällen, bereit, vierzig Meilen bis nach West Virginia zu wandern und dann weiter nach Kentucky und Illinois – solange sie nur um Viertel nach drei zurück auf dem Parkplatz war, wo ihr Dad sie abholte. Hundert Meter weiter traf Maggie auf drei Felsblöcke, die aneinanderlehnten wie ein Trio erschöpfter Frauen. Es waren die typischen Gesteinsbrocken, die hier überall in der Landschaft verstreut lagen – Überbleibsel aus der Eiszeit, die, so besagte es ein Mythos, die gehärteten Seelen der Indianer beherbergten. Neben dem Felsen, der am weitesten weg war von ihr, tauchten plötzlich zwei Rehe auf, hielten kurz inne und starrten sie an, bevor sie davonsprangen. Ihr verschreckter Blick sagte Maggie, dass sie einen Punkt erreicht hatte, an den andere Schüler sich nur selten verirrten. Sie ließ ihren Rucksack fallen, kletterte über die zerklüftete Seite auf den größten der Felsen, legte sich auf den Rücken und sah in das Blätterdach der Bäume hinauf.
Sonnenlicht fiel in tausend kleinen Flecken auf ihre Haut, was sie an die Geschichte ihres Lateinlehrers über Zeus erinnerte, der Danaë mit einem Goldregen schwängerte. War das ein Regen aus Licht oder aus Wasser gewesen, oder etwas ganz anderes? Und hatte die Jungfrau Maria Gott als einen Lichtregen erlebt? Ob diesen Frauen je das Wort »Vergewaltigung« durch den Kopf gegangen war, fragte sie sich.
Maggie gefielen Geschichten von Schwangerschaften nicht,ihr war eine körperlose Erzählung lieber. Sie stellte sich den Wald von einer reinigenden Flamme erleuchtet vor, und sie war der souveräne Phönix, der sich aus der Asche erhob. Warum war sie nicht schon vorher auf die Idee gekommen, in diesen Wald zu gehen? Dieser Fels war viel friedvoller als jedes Versteck in der Schule. Sie könnte jede siebte Unterrichtsstunde auf ihm verbringen, die Geometrie vergessen und stattdessen die Botanik studieren – Botanik, Geologie und transzendentale Meditation.
Ein Rascheln im Laub lenkte Maggies Aufmerksamkeit nach links, wo sie noch ein Reh zu sehen erwartete, das sie mit feuchten Augen anstarrte. Doch stattdessen blickte sie in das Gesicht eines Mannes mit Sonnenbrille – eines schwarzen Mannes in blauem Hemd und anthrazitgrauen Hosen, der sie ohne ein Lächeln auf den Lippen ansah und nun langsam die Arme vor der Brust verschränkte.
10
Zehn Minuten zuvor hatte Carver Petty am Fenster seines Büros gestanden, zugesehen, wie die Schatten der Tore im Gras des Fußballfelds immer länger wurden, und sich gefragt: »Wohin will denn die Kleine da?«
Das Mädchen trug modisch zerrissene Jeans, Flip-Flops, ein dunkellila T-Shirt und einen blau karierten Rucksack über die rechte Schulter geschlungen. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, nur die rötlichen Flecken, die das Sonnenlicht in ihrem welligen braunen Haar aufleuchten ließ, während sie auf den Wald zuging. Sie beeilte sich, als käme sie zu spät zu einer Verabredung
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