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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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  – vermutlich ein per SMS arrangiertes Rendezvous.
    Carver seufzte. Bis zu diesem Augenblick hatte er die Beschaulichkeit des Tages genossen. Jeder ruhige Tag war ein Maßstab seines Erfolgs, bedeutete er doch: keine Schlägereien, keine Waffen, die konfisziert werden mussten, kein von einer Toilette heranwehender Geruch von Marihuana und keine Anrufe bei geplagten Eltern, denen er erklären musste, dass ihr nichtsnutziger Sprössling schon wieder in Schwierigkeiten steckte. Als Carver den Job als Highschool-Polizist übernommen hatte, stand die Schule offenbar am Rande des Abgrunds, gebeutelt nicht nur vom üblichen Alkohol-, Zigaretten- und Drogenmissbrauch der Schüler, sondern auch von ersten Anzeichen des Gang-Unwesens wie speziellen Graffiti und besonderer Kleidung. Zumindest hatte Buddy Blair das behauptet, der zuvor vier Jahre lang Polizist an dieser Schule gewesen war. Die Angehörigen der mexikanischen Familie,die das neue Café El Tequila aufgemacht hatte, waren angeblich die Störenfriede.
    Carver hatte nicht ein einziges Wort von dem geglaubt, was aus Buddy Blairs Mund kam. Sicher, Gang-Aktivitäten waren etwas, das man an jeder Highschool überwachen musste   – in Richmond und Roanoke wurde seit zehn Jahren von Problemen in dieser Hinsicht berichtet   –, doch Blair gehörte zu den Typen, die immer gleich von illegalen Immigranten zu schwadronieren begannen, wenn eine neue lateinamerikanische Familie in die Stadt zog. Die Polizei von Jackson hatte sich doch immer einen Dreck um Gang-Aktivitäten gekümmert. Wie war das denn mit dem Ku-Klux-Klan? Solange die hingeschmierten Sprüche an der Highschool »Scheiß-Nigger« lauteten oder Hakenkreuze an die Toilettentüren geschmiert wurden, hatte sich keiner darum geschert. Irgend so ein Einwanderer mit der mexikanischen Flagge auf seiner Baseballkappe galt als Bedrohung, aber es war okay, wenn die weißen Jungs die Sterne und Balken der Konföderierten auf ihren Gürtelschnallen zur Schau stellten.
    Carver sah zu den zwei Tischreihen am anderen Ende des Raums hinüber, wo ein Junge in Tarnfarben-Jacke, Jeans und Springerstiefeln über ein Blatt mit Matheaufgaben gebeugt dasaß: Bobby Lee Grant, ein Sechzehnjähriger mit der Lesefähigkeit eines Drittklässlers, auf dessen Pick-up wahrscheinlich auch ein Sticker mit der Kriegsflagge der Konföderierten klebte.
    »Kommst du mit deinen Matheaufgaben voran, Bobby?«, fragte er.
    Der Junge beugte sich noch tiefer über sein Blatt. »Nicht so richtig.«
    Carver sah wieder hinaus Richtung Fußballfeld, wo das Mädchen jetzt in den Wald trat. Er merkte sich die Stelle, an der sie verschwand, zwischen den verdorrten Brombeerbüschen und dem Sumachbaum.
    Er ging an seinen Schreibtisch, fuhr den Computer herunterund griff nach seinem Schlüsselbund. Sieben Jahre war es mittlerweile her, dass Buddy Blair die Polizei von Jackson verlassen hatte, um Wärter im Bezirksgefängnis zu werden, und Chief Miller Carver dessen Job anbot. Carvers erste Reaktion war stille Empörung gewesen.
Ja, klar,
hatte er gedacht. Wenn der größte Trottel der Dienststelle seinen Job hinschmeißt, warum den nicht an den Quotenschwarzen weiterreichen? Er war der einzige Sergeant, der dunkler war als ein Salzcracker in einem Bezirk mit fünfundneunzig Prozent weißer Bevölkerung, und zehn Jahre lang hatte er sich geduldig all die Witze über »Dunkelziffern« und »dunkle Kanäle« angehört, so als wäre alles Dunkle sein Spezialgebiet. Warum ihm also nicht auch den Job mit den düstersten Aussichten zuweisen: Babysitter für einen Haufen jugendlicher Straftäter?
    »Ehe Sie ablehnen, möchte ich, dass Sie darüber nachdenken«, hatte Miller gesagt. »Das ist nicht irgendein Scheißjob. Tatsache ist, dass in einer Stadt dieser Größe an der Highschool mehr Drogendelikte begangen werden als an allen anderen Orten, und Sie haben von allen Kollegen hier am meisten Erfahrung mit jungen Leuten.«
    Das stimmte. In den zehn Jahren zuvor hatte Carver sich die Hälfte seiner Abende um betrunkene College-Studenten gekümmert, auf Beschwerden über lautstarke Partys reagiert und taumelnde Studentinnen zurück in ihre Wohnheime begleitet. Dabei hatte er sich unter den Studenten den Ruf eines anständigen Menschen erworben, eines Polizisten, dem die jungen Leute nicht so auf die Nerven gingen wie den anderen Bullen in Jackson. Die meisten seiner Kollegen sahen in den Studenten nichts weiter als eine verwöhnte reiche Brut, die es verdient hatte,

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