Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
mal eins auf den Deckel zu bekommen.
»Die Highschool-Schüler dieser Stadt sind doch ein ganz anderer Schlag als die College-Studenten«, hatte Carver zu seinem Vorgesetzten gesagt.
»Richtig.« Miller nickte. »Aber Sie haben eine Tochter ander Highschool, deshalb kennen Sie die Schule momentan besser als irgendwer sonst von uns.«
Zu der Zeit hatte Carvers Tochter Jessie gerade die neunte Klasse besucht. Ihre Mutter war mit einem anderen Mann nach Atlanta verschwunden, als sie sechs Jahre alt war, und er hatte sie allein aufgezogen. Seitdem war sie der Mittelpunkt seines Lebens, und Chief Miller hatte recht – die Highschool benötigte eine gute polizeiliche Überwachung. Jeden Tag kam Jessie mit Geschichten über Jugendliche nach Hause, die im Englischunterricht hinten in der letzten Reihe Joints verkauften, in der Cafeteria zum Lunch ein paar Gläser Whiskey kippten und in den Toiletten Oralsex hatten.
Der Highschool-Job war ursprünglich eine Halbtagsangelegenheit für Polizisten kurz vor der Rente gewesen, die vor allem darin bestand, vor den neuen Schülern den Einführungsvortrag über die Gefahren von Drogen und Alkohol zu halten, gelegentlich die Spinde zu inspizieren und die Schüler bei Bällen und Footballspielen zu beaufsichtigen. Doch dann passierte der Amoklauf an der Virginia Tech, dem ein halbes Jahr später Schüsse in der Highschool in Jackson folgten: Grüße vom Sohn eines Jägers, der in einem letzten Akt vor seinem Schulabbruch das Gewehr seines Vaters mit in die Schule gebracht und es zwar nicht auf Menschen, aber auf die Statue des Schulmaskottchens in der Eingangshalle gerichtet hatte, einen brüllenden Löwen, der den Schülern jeden Tag entgegensah, wenn sie das Gebäude betraten. Der Junge hatte schon fünf Patronen in das Maul des Löwen abgefeuert, ehe der Schulpsychologe ihn zur Rede stellen konnte.
Danach hatten die Eltern in Jackson darauf bestanden, dass die Sicherheitsvorkehrungen erhöht wurden, und das bedeutete Metalldetektoren, vierteljährliche Übungen zum Verhalten bei Amoklauf, Schäferhunde zum Aufspüren von Drogen und eine Vollzeitstelle für einen Polizisten, der mit Teenagern umgehen konnte. Carver hatte einer auf drei Jahre begrenzten Verpflichtung zugestimmt und versprochen, solange dabeizubleiben, bis seine Tochter den Schulabschluss hatte. Er hoffte, in dieser Zeit einigen der Jugendlichen helfen zu können. Auf dem College war es oft schon zu spät – zu viele Erstsemester hatte er bereits als chronische Alkohol- oder Drogenkonsumenten in der Stadt ankommen sehen. Bei gefährdeten Fünfzehnjährigen hatte er vielleicht noch eine Chance, sie in eine andere Richtung zu lenken.
Als Carver jetzt nach seiner Sonnenbrille griff, fragte er sich, ob dieses Mädchen wohl zu den gefährdeten zählte. Weder das rötlich braune Haar noch der nachlässige Gang kamen ihm bekannt vor, aber es war auch noch früh im Schuljahr, sodass er noch nicht alle der neuen Schüler gesehen hatte. Das Mädchen, das da in den Wald gelaufen war, war vermutlich eine Neuntklässlerin, die sich mit ihrem ungeduldigen Freund treffen wollte.
Er hoffte, das Mädchen aufhalten zu können, ehe es sich die Kleider auszog – Carver hasste es, Teenager beim Sex zu unterbrechen. Buddy Blair hatte es ja vielleicht jedes Mal einen Kick versetzt, wenn er die Jugendlichen auf frischer Tat ertappte, aber auf Carver wirkten die Schüler wie eine Horde Giraffen mit ihren knubbeligen Knien, den langen Zungen und der pickeligen Haut, und an ihr Sexualleben wollte er nicht einmal denken. Als er hier anfing, war es sogar Carvers vordringlichstes Bemühen gewesen, dem sexualisierten Klima an dieser Highschool einen Riegel vorzuschieben – all die Knutschereien in den Korridoren und die sich begrapschenden Pärchen in den Treppenhäusern, denen man nicht entkam. Als Polizist tolerierte er keinerlei illegale Drogen, als Vater war seine Liste der unzulässigen Dinge jedoch weitaus länger und schloss Obszönitäten, störendes Benehmen im Unterricht und jede öffentliche Zurschaustellung von Liebesbeweisen, die übers Händchenhalten hinausging, mit ein. »Kein Knutschen, kein Fluchen«, lautete Carvers Motto, und mit der Erlaubnis des Schuldirektors war er in seinen ersten paar Wochen während der Pausen in den Korridoren Patrouillegelaufen und hatte jedes Paar, das sich vor aller Augen ungeniert miteinander vergnügte, in dramatisch dröhnender Manier angefahren. »Junger Mann, Hände weg da!
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