Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Wolkenschatten über die Berge hinwegziehen sahen. Die Gebirgsausläufer blitzten in einem lebendig funkelnden Smaragdgrün auf, wo immer die Sonne durchbrach, während dunkle trübe Schatten wie dünne Stoffbahnen über die Baumwipfel dahinzogen.
»Es ist so friedlich hier draußen«, sagte Jodie, und Emma nickte.
»Man findet nie Frieden, wenn man auf dem Campus wohnt«, fuhr Jodie fort. »Die Leute meinen, mein Haus ist nur ein weiteres Büro, und sie kommen sogar am Wochenende, um die banalsten Dinge zu besprechen, so als hätten Will und ich kein Leben außerhalb des Colleges.« Sie hielt kurz inne, ehe sie hinzufügte: »Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass die Caldwells mit Mrs Stewart genau zu der Zeit vorbeikommen würden, als Sie mich aufgesucht haben. Offenbar hatte Don ihnen erzählt, dass ich zu Hause bin.«
»Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte Emma.
Jodie seufzte. »Das Ganze ist eine so schreckliche Geschichte. Wussten Sie, dass ein Privatdetektiv sich den Fall ansieht? Er tauchte heute Vormittag bei mir zu Hause auf – weil er mich im Büro nicht antraf, ist er einfach vorbeigekommen, ohne vorher anzurufen. War er bei Ihnen auch schon? So ein kahlköpfiger Mann, um die fünfzig, trägt eine Brille mit Metallgestell?«
Der Stalker, schoss es Emma durch den Kopf. »Ich habe ihn am Haus vorbeifahren sehen, aber ich wusste nicht, wer er ist.«
»Er heißt John Rivers und wurde von Mason Caldwell angeheuert.«
Emma versuchte gar nicht erst, ihre Verwirrung zu verbergen. »Ich verstehe nicht ganz.«
»Kyle behauptet offenbar immer noch, dass Sie Jacob angegriffen haben, ohne provoziert worden zu sein, und Mr Caldwell will der Sache auf den Grund gehen. Ich glaube,er traut dem Sheriff nicht zu, die Sache richtig zu handhaben.«
Emma blickte schweigend auf die Berge, während Jodie fortfuhr.
»Mr Caldwell hegt wahrscheinlich selbst Zweifel daran, ob Kyle die Wahrheit sagt. Mein Eindruck in den letzten vier Jahren war immer, dass Mr Caldwell nicht allzu viel von seinem Sohn hält. Er weiß, dass Sie Kyle des Diebstahls bezichtigt haben, und er will vielleicht irgendwelche schmutzigen Geschichten über Sie ausgraben – um Ihre Glaubwürdigkeit zu erschüttern, falls Sie Kyle vors Ehrengericht des Colleges bringen wollen. Das alles begann doch mit Ihrem gestohlenen Armband, stimmt’s?«
Emma sah Jodie in die Augen. »Nach allem, was geschehen ist, hatte ich das schon ganz vergessen.«
»Es wäre wohl das Beste, wenn Sie kein Verfahren vor dem Ehrengericht mehr anstrengen. Die Abschlussfeier ist bereits in zwei Tagen, und auch vor dem Hintergrund dieses Traumas wäre es schwierig, noch eine faire Untersuchung durchzuführen, ehe Kyle das College verlässt.«
»Könnte man seinen College-Abschluss nicht aussetzen?«
»Das haben wir mal versucht, vor ungefähr acht Jahren, als ein Student einen Kommilitonen ein paar Tage vor der Abschlussfeier tätlich angegriffen hat. Doch die Eltern erwirkten eine gerichtliche Verfügung und sagten, wir dürften ihm den Abschluss nicht vorenthalten. Wir konnten nur verhindern, dass er bei der Zeugnisübergabe aufs Podium kommt und Don die Hand schüttelt.« Jodie hielt kurz inne. »Aber ich glaube ohnehin nicht, dass dieser Privatdetektiv allein Mason Caldwells Idee war. Meiner Meinung nach drängt Mrs Stewart die Caldwells, irgendwie das Ansehen ihres Sohnes zu rehabilitieren. Einen Privatdetektiv könnte sie sich gar nicht leisten – Jacob war auf finanzielle Mittel aus dem Studentenjob-Programm angewiesen. Sie muss die Caldwells gebeten haben, die Rechnung zu bezahlen.«
»Die Fingerabdrücke werden mich entlasten«, sagte Emma.
»Hoffen wir es. Aber wissen Sie, dass Mrs Stewart damit droht, eine Zivilklage wegen fahrlässiger Tötung gegen Sie einzureichen?«
Emma blickte wieder auf die Berge hinaus. »Kann sie das denn?«
»Ich habe mit unseren Anwälten gesprochen, und die sagen, dass Mrs Stewart einen solchen Zivilprozess zumindest kaum gewinnen könnte, wenn die Polizei schon nicht genug Beweise findet, um Strafanzeige gegen Sie zu erstatten. Auch im Zivilprozess müssen die Beweise, dass es keine Notwehr war, überwiegen, und aus dem Grund schnüffelt wohl dieser Privatdetektiv hier herum. Um herauszufinden, ob die Polizei irgendetwas übersieht.«
»Ich habe nichts zu verbergen«, murmelte Emma.
»Kein Anwalt mit Prinzipien würde den Fall übernehmen«, fügte Jodie hinzu. »Das Problem ist nur, dass die Anwälte eines so superreichen
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