Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
über gemeinsame Mittagspausen bis hin zu Abendessen, dann lange Spaziergänge durch den Rock Creek Park und Besuche neuer Ausstellungen im Corcoran-Museum und schließlich die Sonntagmorgen, an denen sie lange eng umschlungen im Bett liegen blieben. Wie Emma war auch Junot Rodriguez geschieden und der Liebe gegenüber skeptisch. Mit dem anderen zusammenziehen wollte vorerst keiner von ihnen, dafür schätzten sie ihre eigenen Wohnungen zu sehr, er seine aufgeräumte und sie ihre unordentliche. Sie luden einander nur dann über Nacht ein, wenn ihnen der Sinn danach stand.
Emma hatte nie gedacht, dass sie mal mit einem Mann ohne College-Abschluss zusammen sein würde. In der Vergangenheit hatte sie das übliche Vorurteil der Professoren gepflegt, das nicht auf der Hautfarbe, sondern auf dem Intellekt basierte. Intellektueller Snobismus war des Fachidioten beste Verteidigung, ein Überbleibsel aus Privatschultagen, als sie für die beliebten Jungs, die sich mit den klugen Mädchen nicht abgaben, nichts als Verachtung übrig hatte und sie ihrerseits als hirnlose Sportler oder reaktionäre Provinzler beschimpfte.Wie hätte sie Junot abgestempelt, wenn sie ihn als Teenager gekannt hätte? Wahrscheinlich hätte sie ihn unter dem dehnbaren Begriff »Migrant« einsortiert, egal wie lange seine Familie schon in Amerika lebte, und keinen Unterschied zwischen mexikanischer, guatemaltekischer oder, in Junots Fall, chilenischer Herkunft gemacht.
Das Abstempeln war während ihres ganzen akademischen Lebens weitergegangen. Hatte man einen Doktortitel oder einen Master-Abschluss? War man Dozent, Honorar- oder festangestellter Professor? Oder hatte man das College abgebrochen und war, wie Junot, lieber auf die Polizeiakademie gegangen als in Universitätshörsäle? Erst nachdem sie bei ihrem ersten Besuch in seiner Wohnung die Bücherstapel auf seinem Nachttisch gesehen hatte, erkannte Emma, wie tief ihre Vorurteile saßen.
Wenn das Schicksal sich nicht dagegenstellte, könnte sie ihn vermutlich heiraten, auch wenn ihr die meisten Ehen heutzutage wie schlechte Kompromisse vorkamen, die in Naivität eingegangen wurden und in Langeweile endeten. Die letzten beiden Jahre ihrer Ehe waren furchtbar gewesen, geprägt vom Widerhall von Jacobs Tod. Als Emma die Augen schloss und versuchte, noch eine Stunde zu schlafen, zogen Szenen aus der Vergangenheit durch ihre Gedanken, und sie sah sich selbst durch ihre alte Küche in den belasteten Hausflur gehen, wo der stets pragmatische und kompetente Rob wartete.
Rob hatte vom ersten Tag an gesagt, dass das Interesse der Medien an ihrem Haus nur von kurzer Dauer sein würde. Wenn sie erst mal ihre Filmaufnahmen von Veranda, Haustür und Bach gemacht und begriffen hatten, dass Emma nicht mit ihnen redete, würden die Reporter sich mit Archivmaterial von ihr zufriedengeben, das auf der Webseite des Instituts für Englische Philologie zur Verfügung stand. Und Rob hatte recht gehabt. Emma war erleichtert gewesen, als nach drei Tagen die Telefone endlich nicht mehr ganz so häufig klingeltenund die Interviewanfragen per E-Mail etwas nachließen. Es war ein wahres Glück gewesen, an diesen Maitagen morgens in einem stillen Haus aufzuwachen, ohne Beobachter draußen außer den Rehen, die in der Morgendämmerung unter dem Holzapfelbaum standen. Wenn sie auf die Veranda trat, hoben die Tiere schweigend die Köpfe und musterten sie in regloser Stille, ehe sie ihre Nasen wieder in das taufeuchte Gras tauchten. In diesen frühen Morgenstunden waren die Bäume voll Roter Kardinale und Spottdrosseln, und ihre Laute waren die einzigen, die Emma hören wollte, im Gegensatz zum Auf und Ab von Maggies leisen Gesprächen mit Rob, oben im Bett des Mädchens.
Maggie wollte Emma nicht mehr in ihrem Bett haben. Zwei Abende zuvor hatte Emma gespürt, wie Maggies Körper ganz steif wurde, als sie sich neben ihre Fünfjährige kuschelte, um ihr eine Gutenachtgeschichte vorzulesen – die Geschichte des einbeinigen standhaften Zinnsoldaten. Emma hatte gehofft, dass dieses Beispiel treuer Liebe in ihrer Tochter Wurzeln schlagen würde. Doch mittlerweile hatte sie Rob die kostbaren Abend- und Morgenstunden überlassen, in denen ihr Kind ganz liebevoll vor Schlaftrunkenheit war. Jetzt war Rob derjenige, der Maggie am Anfang und am Ende jeden Tages küsste. Er führte ernste Gespräche in der Morgendämmerung mit ihr, während Emma draußen stand, außerhalb des Heims der Familie, und durchs kalte Gras watete, um ein
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