Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
paar Zweige von dem Zwergflieder neben der Veranda zu pflücken.
Als Emma sich, vier Tage nach Jacobs Tod, morgens wieder einmal über diesen Flieder beugte und bewunderte, wie jede einzelne winzige Blüte sich mit Hunderten anderer zu einer Handvoll Lavendelblau vereinte, hatte sie an Walt Whitmans Elegie auf Abraham Lincoln ›Als jüngst der Flieder blühte im Garten vorm Haus‹ denken müssen:
Ewige Wiederkehr des Frühlings, du bringst mir Dreiheit gewiss.
Sie sah den Sarg des Präsidenten vor sich, wie er mit dem Zug von Washingtonnach Illinois gefahren wurde, und als sie den Duft des Flieders einsog, dachte sie an Jacob Stewarts Sarg, der in seiner eigenen langsamen Prozession von Virginia nach Philadelphia befördert worden war, in Begleitung seiner Mutter. An diesem Morgen fand Jacobs Beerdigung statt, und sie sah vor sich, wie Mrs Stewart nach einer schlaflosen Nacht in einem stillen Haus aus dem Bett aufstand und dasselbe schwarz-weiße Kleid anzog, das sie getragen hatte, als sie Emma angriff, das einzige Kleid, in dem Emma sich Mrs Stewart vorstellen konnte, mit langen weißen Ärmeln, die sich an den Handgelenken wie Blüten öffneten.
In diesem Augenblick hatte Emma gedankenverloren den Blick von den Fliederbüschen gehoben und gesehen, wie ein dunkelblauer Ford Explorer am Straßenrand hielt. Darin saß ein kahlköpfiger Mann, der eine Brille mit Metallgestell trug und sie betrachtete – ein Reporter, dachte Emma. Doch er näherte sich nicht, um Fragen zu stellen. Stattdessen taxierte er das Haus, den Bach, den Flieder und ihr Gesicht mit einem so dreisten Blick, als würde er Inventur machen. Instinktiv zog Emma ihren Bademantel über der Brust fester zusammen. Der Mann lächelte, neigte leicht den Kopf und fuhr dann einfach wieder davon.
Ich habe einen Stalker,
dachte Emma, denn sie erinnerte sich, dass sie den Mann gestern schon einmal langsam am Haus vorbeifahren gesehen hatte. Vermutlich jemand, der sich für Verbrechen begeisterte, ein Krimiliebhaber, der mal den Tatort eines echten Mordes sehen wollte. Würde er jeden Tag kommen? Würde er aus dem Auto steigen, wenn sie nicht da war, und durch die Fenster hineinspähen oder sich auf der Veranda herumtreiben und mit der Hand über das Geländer streichen? Sie könnte Maggie nie wieder alleine draußen spielen lassen, wenn so ein Mann hier herumschlich.
Am nächsten Tag rief Jodie an, um ein weiteres Treffen zu vereinbaren.
»Aber nicht in Ihrem Haus«, sagte Emma.
»Nein«, stimmte Jodie zu. »Wir sollten uns überhaupt nicht auf dem Campus treffen. Morgen Vormittag ist die Zeugnisübergabe, und alle Familien kommen in die Stadt.«
»Kommen Sie doch zu mir«, schlug Emma vor. »Hier draußen ist es ruhig.«
Sie nahm ein kurzes Zögern in Jodies Stimme wahr, einen Widerwillen, das unselige Haus aufzusuchen.
»Okay. Ich bin in einer halben Stunde da.«
Emma verbrachte die Zeit damit, Geschirr abzuwaschen und eine Karaffe Eistee zu machen, mit Minze, die an ihrem Bach wuchs. Sie beschloss, Jodie an ihrem Auto zu begrüßen und sie über die verglaste Veranda an der Rückseite des Hauses hineinzuführen. Dann müsste die Dekanin nicht über dieselbe Türschwelle treten wie Jacob, bekäme den Flur ohne den Läufer nicht zu sehen und würde zwischen den polierten Kieferndielen, die Rob zwei Stunden lang gescheuert hatte, keine unsichtbaren Spuren von Blut vermuten. Alle Details jener Nacht waren in der Stadt herumgetratscht worden, sei es bei Begegnungen im Supermarkt oder in Gesprächen im Buchclub, und sowohl Emmas als auch Kyles Version wurde gleichermaßen Glauben geschenkt. Emma wusste, dass es Jodie unangenehm wäre, fünf Meter vom Haus entfernt zu stehen und die verfluchte Haustür zu sehen, die Veranda, auf der die Studenten gestanden hatten, und hinten im ersten Stock das Fenster, aus dem Maggie herausgeklettert war.
Als Jodie ankam, blieb sie kurz sitzen und starrte das Haus an, ehe sie aus dem Auto stieg, und Emma beeilte sich, ihr entgegenzugehen. Emma hatte nicht mit Jodies Überraschung darüber gerechnet, wie harmlos das Haus aussah und wie hübsch mit den Pfingstrosen, die den Weg bis zu den Stufen säumten, mit den hängenden Körben voll Petunien und dem weißen Verandageländer. Mit jeder Blüte verkündete das Haus seine Unschuld, so als könnte in einem so einladenden Gebäude gar nichts Schlimmes geschehen sein.
Emma führte Jodie zur hinteren Veranda, wo sie in weißen Schaukelstühlen aus Korb saßen und
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