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Stimmen

Stimmen

Titel: Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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wahnsinnig, weil sie dich für tot hält, war dir das klar?«
    Peter schüttelte den Kopf und ging auf seine Tochter zu, um sie zu umarmen. »Was hast du ihr denn erzählt?«
    »Gar nichts. Ich wusste nur, dass ich jetzt bei dir vorbeischauen muss.« Sie sah sich im Wohnzimmer um und biss sich auf die Lippen. »Heute Morgen ist sie wieder aufgetaucht, sah aber anders aus, wirklich dünn und schwach. Hast du irgendwas unternommen?« Lindseys Miene hellte sich bei dem Gedanken an ein gefährliches Unternehmen auf, wie es bei Kindern oft vorkommt. »Warst du das, der Salammbo angesteckt hat?«
    »Nein.« Peter zerzauste ihr mit einer Hand das Haar, was sie mit einem Ausdruck jugendlicher Nachsicht über sich ergehen ließ.
    »Warum ist sie denn immer noch hier?«
    »Sie ist hier geblieben, um uns zu beschützen.«
    »Vor wem oder was?«
    Unvermittelt umarmte Peter seine Tochter, schüttelte den Kopf und rieb mit seinem Kinn über ihren Haarschopf, was sie ohne Widerstand geschehen ließ. Er spürte, wie sich ihr seidiges Haar in seinem Bart verfing. »Nein«, murmelte er, »angesteckt hab ich Salammbo nicht.«
    »Aber du hast irgendwas getan.«
    »Stimmt.«
    »So dass Daniella uns jetzt nicht mehr beschützen muss?«
    Peter blickte durch das hohe Fenster, dachte an den mit weißem Staub überzogenen Schlüssel in der Türglocke und die Tür, die aufgestanden hatte. Es ist schon allzu lange her. »Jetzt vielleicht nicht mehr.«
    »Sie muss fortgehen«, sagte Lindsey. »Mir zuliebe, uns allen zuliebe. Können wir ihr dazu verhelfen, indem wir sie ziehen lassen?«
    »Ich weiß es nicht, hoffe es aber. Ich hab deinen Rat befolgt.« Er löste sich von ihr und schob ihr dabei eine Haarsträhne ins Gesicht, die sie wegblies. »Wie bist du überhaupt hergekommen?«
    »Mit dem Bus. Mom ist viel zu kaputt, sich noch ins Auto zu setzen.«
    »Mit dem Bus? Und das in L.A.? Bist ein tapferes Mädchen.«
     
    •
     
    Während Peter die Strickjacke auf das Bett legte, in dem Daniella ihm das erste Mal erschienen war, setzte sich Lindsey auf ihr eigenes und verschränkte nervös die Hände im Schoß, um sie gleich wieder zu öffnen.
    »Woher hast du das?«, fragte sie, als er neben ihr Platz nahm.
    »Aus Salammbo.«
    »Wer hat sie ermordet?«
    »Michelle.« Peter fand es allzu kompliziert, die ganze Geschichte zu erklären. Lindsey riss die Augen auf.
    »Mom hat Michelle noch nie leiden können. Ist sie jetzt tot?«
    »So gut wie.«
    »Ist das Blut auf der Jacke?«
    »Ja.«
    »Daniellas Blut?«
    »Ich glaube schon.«
    »Das war ihre schönste Strickjacke.« Plötzlich und unvermeidlich standen Lindsey Tränen in den Augen. Peter merkte, wie sehr es sie trotz des Panzers von Sprödigkeit traf. »Die Jacke hast du ihr zu unserem Geburtstag geschenkt.«
    »Ich weiß.«
    Lindsey presste die Lippen zusammen und wischte sich über die Augen. »Und was machen wir jetzt?«
    »Schlag du was vor.«
    »Wie, zum Teufel, soll ich das wissen?«
    »Du bist ihre Schwester, ihr Zwilling, stehst ihr näher als ich. Meiner Meinung nach werden die Geister von zweierlei angezogen: von der physischen Natur und vom Gedächtnis – von der DNA und von unseren Erinnerungen. Und Verwandte sind Teil der Erinnerungen, besonders bei einem Zwilling. Auf Erden kommst du dem, was Daniella einst war, am nächsten.«
    »Aber wir sind ja gar nicht eineiige Zwillinge. Und sie hat sich dauernd mit mir gestritten«, erwiderte Lindsey hilflos. »Vielleicht ist sie immer noch böse auf mich.«
    »Das glaube ich nicht. Sag mir, was wir deiner Meinung nach tun sollen.«
    »Na ja, sie kommt zu mir, wenn ich von ihr geträumt oder an sie gedacht habe. Manchmal auch, wenn Mom weint.«
    »Hat deine Mutter sie je gesehen?«
    »Nur einmal, glaub ich. Sie sagte, sie hätte das Gefühl, wahnsinnig zu werden.«
    »Also…«
    Lindsey schloss die Augen und griff nach Peters Hand. »Ich glaube, wir sollten einfach an sie denken.«
    Also dachten sie nach und versuchten sich zu erinnern.
    Im Zimmer war es dunkel und still.
     
    •
     
    Peter machte ihnen eine Dosensuppe zum Abendessen, die sie schweigend löffelten. Während Lindsey an der aufgesprungenen Haut ihrer Unterlippe zupfte, beobachtete sie ihren Vater genau. Nach dem Abendessen wuschen sie gemeinsam ab und setzten sich danach auf die Couch im Wohnzimmer. Als Lindsey einnickte, bettete er ihren Kopf in seinen Schoß und musterte das Schachspiel auf dem Couchtisch. Er fragte sich, ob er Recht daran tat, Lindsey einzubeziehen.

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