Stimmen
mit dir nicht alt werden würde.« Sie fuhr mit den Händen die Rundungen ihres üppigen Busens und der Hüften nach: Schau doch nur, was aus mir geworden ist.
»Damit tust du mir wie dir Unrecht«, widersprach er.
»Ja, aber ich verzeih dir tatsächlich.« Jetzt lag Distanz in ihrem Blick. Sein Besuch ermüdete sie, ihm fehlte der Hauch Pikanterie. »Erzähl mir, warum du am Durchdrehen bist.«
Peter nahm die Brille ab und putzte sie mit der unbenutzten Papierserviette. »Lieber nicht.«
»Du Undankbarer«, sagte Jessie, warf ihm aber einen Kuss über den Tresen zu. »Und jetzt mach, dass du wegkommst. Gerry sieht es gar nicht gern, wenn ich mit berühmten Fotografen herummache.«
»In letzter Zeit habe ich seltsame Dinge gesehen«, begann er, erneut von Verzweiflung gepackt, weil er mit seinen neuesten Erfahrungen nicht allein sein wollte, an keinem Ort der Welt. Das machte ihm fast so viel Angst wie der Alte und die Kinder.
»Oh?« In Jessies Augen verstärkte sich das Fünkchen Pikanterie.
Er erzählte ihr davon, wie ihm in dem Haus in Tiburon das Ebenbild von Lydia erschienen war, und schließlich auch von den morgendlichen Besuchern in Point Reyes, obwohl er dazu größere innere Widerstände überwinden musste.
Im Lauf seines Berichts gewann er Jessies ungeteilte Aufmerksamkeit. Letztendlich entpuppte sich Peter doch als Ablenkung vom Alltag und bot eine Geschichte, die sie ihren Freunden erzählen konnte. Mit forschendem Blick und höchster Konzentration sah sie ihn mit ihren grünen Katzenaugen an. »Ist ja toll«, bemerkte sie nüchtern, während sie seinen Teller in die Spüle stellte. »Erscheinungen lebender Menschen. Das Phänomen der Doppelgänger. Ich hab mal in einem Film mitgespielt, der davon handelte.«
»Bin ich verrückt?«
»Zweifellos«, erwiderte Jessie und verzog gleich darauf verärgert das Gesicht. »Peter, red dir doch nichts ein, du bist nicht verrückt.«
»Was dann?«
»Die Menschen sehen dauernd irgendwelche Dinge.«
»Ich nicht, jedenfalls bis jetzt nicht.«
Sie tat es mit einem Achselzucken ab. »Bei Erscheinungen von Lebenden spricht man von Geistern, bei Erscheinungen von Toten von Gespenstern. Ich wünschte, ich hätte solche Erscheinungen. Das Leben hier ist so langweilig. Vielleicht könntest du Gerry und mich nach Tiburon mitnehmen, dann könnten wir dort eine Seance abhalten. Ach, was soll’s… Eigentlich sind Seancen wirklich langweilig, wenn man darüber nachdenkt, und Gerry ist sowieso Atheist.«
Sie kam um die Küchentheke herum und umarmte Peter flüchtig. »Aber du musst jetzt wirklich gehen, ganz im Ernst.« Als er durch den Kaftan hindurch ihren üppigen Körper spürte, fragte er sich, was für ein Typ von Mann Gerry wohl sein mochte, und versuchte, ihn sich vorzustellen.
Während sie zur Haustür gingen, tastete Peter mit den Augen den schmalen Gang ab, ohne selbst zu wissen, wonach er Ausschau hielt. Vielleicht nach Überbleibseln schlimmer Ereignisse. Oder nach fantastischen Ebenbildern Gerrys, die um Mitgefühl und Verständnis bettelten. Peter hatte bis jetzt nicht daran gedacht, wie schwer es seinerzeit gewesen war, mehr als nur gute Laune in Jessie zu wecken.
Aber da war nichts. Die Zimmer wirkten sauber und völlig normal, bezeugten ein ruhiges und friedliches Leben.
Am Porsche angekommen, öffnete Peter unverzüglich die Fahrertür und setzte sich hinters Lenkrad, während Jessie ihm von der Haustür aus zulächelte und zum Abschied winkte.
Als er den Sicherheitsgurt anlegte, drückte das Trans gegen seine Hüfte.
Kapitel 15
Von der Hauptzufahrtsstraße aus war der größte Teil der alten Gefängnisgebäude nicht zu sehen. Die Bauarbeiten für San Andreas hatten 1854 begonnen. Vor zwei Jahren erst war der Komplex geschlossen und geräumt worden, obwohl der Grund und Boden hier in der Bay Area dem Staat als unbebaute Fläche schon seit Jahren weit mehr eingebracht hätte.
Inzwischen waren hohe Kräne mit Abrissbirnen und Schaufelbagger im Einsatz, um die meisten der festungsartigen Mauern einzureißen oder wegzuschlagen und die riesigen Betonbrocken und das Gewirr aus Maschendrahtzäunen und Stacheldraht beiseite zu räumen. Auf der Ostseite waren gefällte Wachtürme aus grauem, von Rissen durchzogenem Beton wie Käsescheiben jeweils im Dreierpack aufeinander gestapelt worden. Die Verkleidung aus Ziegelsteinen klebte wie rötlicher Schimmel daran fest. Hinter dem Bauzaun ragten mehr als dreißig Meter hohe Schuttberge aus
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